Gedicht en dichten volgens Inger Christensen

Der naive Leser 

Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selber. 

   Ich tue so, als wäre es möglich, als Person ein wenig zurückzutreten und die Sprache sozusagen von aussen zu überwachen, so als hätte ich sie selber nie benutzt. 

   Ich tue also so, als hätten die Sprache und die Welt ihre eigenen Verbindungen. Als hätten die Wörter, um mich herum, direkte Berührung mit den Phänomenen, auf die sie verweisen. So dass es der Welt möglich wird, Sinn in sich selbst zu finden. Einen Sinn, der vorher schon da ist. 

   Dabei tue ich nur so, als ob. Ich spüre aber auch, dass ich das tun muss. Ich muss in der Welt Sinn finden, nicht, weil ich das beschliesse, vielleicht nicht einmal, weil ich das wünsche, sondern weil ich als ein Eingeborener – auf dieselbe Weise, wie ein Baum eingeboren ist-, ja wirklich als ein eingewachsener Teil der Welt nicht umhinkann, Sinn zu schaffen, den Sinn, der vorher schon da ist und der unaufhaltsam seine eigene Verwandlung verwaltet, als das, was wir unter Überleben verstehen. 

   Ich kann es auch anders sagen. Was ich hier erzähle, unterscheidet sich im Prinzip nicht vonder Art der Bäume, Blätter zu treiben. Die sich selbst produzierenden, sich selbst regulierenden Systeme der Biologie sind im Gronde von derselben Art, oh sie nun Bäume genannt werden oder Menschen. 

   Als Mensch muss ich natürlich einwenden, dass ich, während ich hier an meinem Fenster sitze, den Baum sehen kann, während ich annehmen muss, dass der Baum nicht mich sehen kann. Aber was heisst das: sehen? Das ist ja Menschensprache. Natürlich ist es richtig, dass der Baum nichts gesehen hat aber auf seine Weise hat er mich dennoch gesehen, indem er die Anwesenheit des Menschen gemerkt hat, wenn nicht anders, dann als Luftverschmutzung. 

   Dann kann man sagen: das zeigt eigentlich nur, dass die Menschen höher stehen als die Bäume und Macht über die Dinge haben, dass, kurz gesagt, wir es sind, die bestimmen müssen, ob die Bäume sterben sollen, und nicht umgekehrt. Doch wer weiss, wie die Verwandlung am besten verwaltet wird. Was wie Waldsterben aussieht, ist vielleicht vor allem ein Zeichen dafür, dass wir selber in Gefahr sind, dass wir selber erliegen können – natürlich nach den Wäldern. 

   Aber vorher oder nachher ist in dem Zusammenhang wohl für die Bäume nebensächlicher als für uns. Wir haben ja keine unmittelbare Fähigkeit gezeigt, aus der Erde wiederaufzuerstehen, wenn wir erst einmal tot sind, aber da Pflanzensamen, die in den Pyramiden Ägyptens versteckt gewesen sind, sich heute als keimfähig erwiesen haben, muss man annehmen, dass die Bäume sich nur in der Erde verstecken und wieder heraufkommen wollen, wenn die Zeit da ist, wenn einmal die Luftverschmutzung und die Menschen weg sind. Die Bäume überleben, dann aber eher mit den Küchenschaben zusammen als mit uns.

   Auf diese Weise kann man es wirklich nicht sagen. Und doch. Sie zeigt vielleicht, dass die Welt in Wirklichkeit sowohl lesen als auch gelesen werden kann. Dass Eindrücke geerntet werden können, so wie Trauben geerntet werden. Dass Zeichen gesammelt werden können, so wie Nahrung gesammelt wird. Dass wir als Menschen eine Vielfalt von Zeichen lesen können, von den Bewegungen von Sternen und Wolken über Vogel- und Fischschwärme bis hin zu Ameisensprache und Wasserstrudeln im heimischen Küchenausguss. Alles von Astronomie und unsichtbarer Chemie bis hin zur Biologie und ihrem Klima. Aber auch die Ameisen lesen. Auch die Bäume lesen und wissen auf Sekunden genau, wann sie die Blätter hängen lassen müssen, wenn ihre Blüte in Gefahr ist. 

   Dennoch sind wir natürlich einzigartig, aber nur, weil die Erde einzigartig ist. Die Erde hat in ihrer Biosphäre das Projekt entworfen, das Menschheit heisst. Das einzigartig ist, nicht nur, weil in unserem Teil des Weltraums keine anderen in der Nähe sind, die uns ähneln, und nicht nur, weil wir alle Zeichensysteme der Welt ablesen und versuchen können, sie in unsere Sprache zu überführen, auch nicht, weil wir den natürlichen und historischen Prozess der Lesbarkeit selbst lesen können – nein, eigentlich sind wir nur einzigartig, weil wir das Wort Gott benutzen. 

   Weil wir uns vorstellen müssen, dass wir auch nach beendeter Lektüre unserer selbst und all des anderen zusammen schliesslich an die Grenze der Lesbarkeit gelangen werden. Und vielleicht ist es diese von uns vorweggenommene Grenzstelle, was uns so einzigartig macht. Hier, unterwegs, führen wir das Gespräch zwischen Mensch und Weltall, zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit, das wir versuchsweise Gott nennen. 

   Und dieses Gespräch haben wir ja lange geführt. Noch bevor wir eine Schriftsprache hatten. Vielleicht sogar, bevor wir eine Sprechsprache hatten. Jedenfalls bevor wir das erste Gedicht dichteten, mündlich oder schriftlich, weil wir von vornherein mit dem Gedicht verbündet waren, das das ureigene Gedicht des Weltalls ist. 

   Unterwegs haben wir verschiedene Versuche gemacht, dieses Gedicht einzufangen, und wir haben sie alles mögliche genannt, von Offenbarung bis Wissenschaft. Seit die ersten heiligen Schriften zur Welt kamen, von der Bibel über Novalis bis Mallarmé, und in der Wissenschaft weiter bis zu den letzten Theorien über den Zusammenhang des Weltalls, hat eine Vorstellung vom Weltbuch bestanden, dem Buch, das alles aussagt und damit das Gespräch zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit zum Aufhören bringt, sozusagen im Worte Gott drinnen. 

   Eine Vorstellung, die immer Nahrung aus ihrer eigenen Unmöglichkeit gesogen hat. Die Bibel wird zwar eine Offenbarung genannt, aber eine Offenbarung, die in den Vorbehalt mündet, dass wir hier wie in einem Spiegel sehen, ein Rätsel, aber zu seiner Zeit von Angesicht zu Angesicht sehen werden – das heisst: einmal, wenn die Welt, die offenbart wird nicht mehr existiert. 

   Und auch wenn Novalis die allumfassende Verschmelzung von Wort und Phänomen sucht – »Das Äussre ist ein in Geheimnisszustand erhobnes Innre« – und die Formel für das archetypische Buch umkreist, wird die Arbeit immer wildwüchsiger, denn je mehr er sich um das Ganze konzentriert oder sich in das Ganze hineinliest, desto mehr scheint es sich auszubreiten, genauso wie später Mallarmé dahin kommt, mehr auf die Leere zwischen den Wörtern hinzuweisen als auf die Wörter selbst. 

   Auch die Versuche der Wissenschaft, das Weltbuch in einem einzigen Zusammenhang zu schreiben, sind in ständig revidierten Theorien über Entstehung, Einrichtung und Verlauf des Weltalls gelandet, Theorien, die ganz draussen an der Grenzstelle entstehen, wo das Gespräch zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit zwar geführt werden kann unter Namen wie Chaos-Theorien, Fraktalen und Superstrings, aber nur, weil es mit dem Wort Gott allzu anmassend klingt. 

   Doch so, wie die Buchstaben in einem Buch niemals die Welt werden lesen können, so können wir auch niemals die Welt lesen. Die Buchstaben werden es natürlich auch nicht versuchen. Wir dagegen sind gezwungen, weiterzulesen. Und stets wird es uns gehen wie in der berühmten Erzählung von Jorge Luis Borges, der Erzählung von der Landkarte, die immer grösser und ausführlicher gezeichnet wird, bis sie schliesslich genauso gross ist wie die ganze Welt und das bedeckt, was sie eigentlich aufdecken sollte. 

   In einer menschlichen Dimension muss die Karte eine Abkürzung sein. Und auf dieselbe Art und Weise muss die Sprache eine Abkürzung für die Lesbarkeit der Welt als solche sein. Eine poetische Abkürzung für all die Zeichen im Weltall, deren Verhältnisse und Bewegungen wir nicht umhin können uns anzulesen. Was Novalis »das seltsame Verhältnisspiel der Dinge« nennt. Dieses Verhältnisspiel kommt in allen Arten sich selbst produzierender Systeme und ihrer Verflechtung zum Ausdruck. Von der Welt der Menschen aus gesehen, in erster Linie in der Sprache und der Mathematik und ihrer Verflechtung in uns. Unter anderem in Gestalt von Gedichten. 

   Wenn ich sage: unter anderem in Gestalt von Gedichten, dann deshalb, weil die Gedanken, die ich mir hier mache, auch eine nachträgliche Rationalisierung sind, die jedenfalls teilweise mit dem Erlebnis verknüpft ist, das ich selber mit dem Schreiben von Gedichten hatte, als ich die Gedichtsammlung alphabet schrieb. 

   Sie entstand auf eine besondere Art und Weise, die vielleicht Licht auf den Zusammenhang zwischen Zahlen, Poesie und Sprache werfen kann. 

   Wie alle, die sich ab und zu mit der Unlesbarkeit konfrontieren, vielleicht gerade, weil die Lesbarkeit überhaupt existiert, erlebte ich das, was man eine Krise nennt. Warum überhaupt schreiben, wenn die Unlesbarkeit bloss anhält? Und auf einer anderen Ebene: warum schreiben, wenn die Menschheit ihre eigenen Ausrottungsmittel anhäuft und so aussieht, als sehnte sie sich nicht danach zu lesen, sondern danach, sich über die Grenze hinwegzuwerfen, in die grosse Unlesbarkeit hinein. 

    Die eigentliche Arbeit damit, diesen Fieberzustand zu überwinden, begann als Vorgang des Einsammelns. Eine mir selbst unverständliche Beschäftigung damit, Einzelwörter auf Papier zu schreiben, vorzugsweise Substantive, die auf konkrete Phänomene in der Welt verweisen, alles mögliche Essbare, Sichtbare und sinnlich Wahrnehmbare wie Aprikosen, Tauben, Melonen, aber auch Dioxin und anderes. Da standen sie, auf grossen Bögen weissen Papiers, Wörter mit A, Wörter mit B, Wörter mit C usw., und wenn ich noch unerträglich viel länger weitergemacht hätte, dann hätte es einer besonders schlampigen Form von Wörterbuch geähnelt, einer Wildnis unzusammenhängender Phänomene. 

   Hier kommt die Mathematik herein. Denn da die Phänomene niemals von selbst in Zusammenhängen auftreten, nur weil sie benannt werden, wurde es mein Glück, dass ich unterwegs, in meinem Suchen nach Wörtern, zufälligerweise über Zahlen fiel (in einem Lexikon unter F), nämlich über Fibonaccis Zahlenreihe, die ich am ehesten als eine Vision erlebte, als ein Bild für Entstehung und Ausbreitung des Weltalls, das der Theorie vom Urknall entsprach, die damals die führende war. Als das Weltall geboren wurde, geschah folgendes: Alles, was anfangs zu fast nichts zusammengepresst war, explodierte und breitete sich nach allen Seiten aus, eine Bewegung, die andauern wird, bis die Ausbreitung so gross ist, dass alles zu verschwinden und wieder zu nichts oder fast nichts zu werden scheint. Ein Bild also. Oder ein Gedicht, das sich draussen in der Unlesbarkeit befand, dessen formale Struktur ich jedoch über die eingesammelten Wörter und ihre Phänomene presste. Dadurch gelang es mir, ein Gedicht zu schreiben, das verhältnismässig lesbar ist, es vielleicht aber am meisten dadurch ist, dass es auf die gemeinsame Unlesbarkeit hinweist. 

   In dem Zusammenhang kann es interessant sein zu erzählen, dass ich erst, nachdem ich alphabet geschrieben hatte, detailliertere Kenntnis über Fibonaccis Reihe erhielt, worin jede Zahl die Summe der beiden vorangehenden ist; ich wurde nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass ganz viele Pflanzen sozusagen Fibonaccis Zahlen benutzen. Zum Beispiel werden zwei aufeinanderfolgende Blätter auf einem Pflanzenstengel das Verhältnis zwischen Fibonacci-Zahlen spiegeln, die zwei Stellen auseinanderstehen. Für den Apfelbaum ist dieses Verhältnis 2 zu 5, für Porreepflanzen 5 zu 13. Und es gilt nicht nur für Blätter, sondern auch für Zweige, Blüten und Samenkörner. Bei der Sonnenblume und der Margerite zum Beispiel sind die Samenkörner in der mittleren Scheibe in Spiralen angeordnet, wo die Zahlen für die Sonnenblumen allgemein 21 und 34, 24 und 55 oder 55 und 89 sind, während sie für Margeriten 21 und 34 sind. Es sieht also wirklich so aus, als hätten die Pflanzen ihre eigene Art und Weise gefunden, Gedichte zu schreiben. Gedichte, die wir Menschen nicht umhinkönnen zu lesen. 

   Ob Gedichte nun aber auf die eine oder auf die andere Weise geschrieben werden, ob ich nun so tue, als schriebe ich oder als schriebe die Sprache, ob ich nun schlecht und recht die Welt lese oder sage, dass ich ein Teil der Welt bin, der die Welt liest, und dass sie damit sich selbst liest, so bin und bleibe ich der naive Leser, ein Eingeborener, der seine Welt nie von aussen sehen kann. Und mein Gedicht wird dasselbe Verhältnis zum Weltall haben wie das Auge, das seine eigene Netzhaut nicht sehen kann. Jedenfalls aber sieht es. Und es liest weiter

Uit:

Christensen, Inger, Der Geheimniszustand und das “Gedicht vom Tod”. Essays. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel, München 1999, (Carl Hanser Verlag), Pag. 19-25



Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz 

Seide ist ein Substantiv. Substantive sind sehr einsam. Sie sind wie Kristalle, deren jeder sich um sein Stückchen von unserer Kenntnis der Welt schliesst. Aber betrachte sie genau in all ihren Graden von Durchsichtigkeit, und sie werden früher oder später diese Kenntnis zurückgeben. Sprich das Wort Seide aus, und es verschwindet mit dem Laut, aber deine Wahrnehmungen, deine Erinnerung und dein Wissen werfen ein Echo zurück. Schreib es auf ein Stück Papier, und es bleibt unbeweglich stehen, aber deine Gedanken und Gefühle sind schon unterwegs zu den fernsten Winkeln der Welt. Die Einsamkeit des Substantivs hat den Sinn, dass es in sich selbst ruht, als wäre es das einzige existierende Wort. Als wenn Seide das einzige Wort wäre und deshalb jederzeit imstande, unsere eingekapselte Kenntnis zu wecken, Kenntnis nicht nur der Seide, sondern der Welt als solcher. Sogar des Vergessens. Versuch nur, das Wort Seide zu vergessen, und du wirst daran erinnert, wenn du das nächste Mal den Sommerhimmel siehst, ein Blütenblatt oder das Häutchen zwischen zwei Muskeln eines geschlachteten Hühnchens. 

   Die Seide habe ich bei Lu Chi gefunden, in seiner Ars poetica. Er wurde 261 nach Christus geboren und im Jahre 303 hingerichtet. Wie seine Vorfahren hatte er einen hohen militärischen Rang, aber seine Hinrichtung erfolgte unverzüglich, als er in einer heftigen Schlacht am Yangtse so viele Soldaten verlor, dass ihre Leichen das Wasser des Flusses aufstauten. Zehn Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er im Exil, in Studien vertieft. Er hinterliess dreihundert Gedichte und Essays, darunter das kleine Buch über die Schreibkunst, in dem ich die Seide gefunden habe.

   »In einem einzigen Meter Seide findet sich der unendliche Weltraum«, schreibt Lu Chi. Er schreibt das chinesische Wort für Seide, malt es mit seinem Pinsel, vermutlich, wie so oft vorher, auf Seide. Ich meine, ich sähe ihn da sitzen, den Pinsel eingetunkt, aber erst nur halb angehoben, wie er in sich hineinlauscht, während das einzige seinem nach innen gewandten Blick Sichtbare die Seide ist, der leere und grenzenlose, der unendliche Weltraum, aus dem die Perspektive im selben Augenblick hereingezogen wird, wo er den Pinsel wirklich anhebt und das Wort Seide schreibt. 

   Vielleicht war die Seide blau. Alle Adjektive sind sehr hilflos. Sie sind nie so recht etwas an sich. Sie müssen sich Tag für Tag an all die Substantive klammern, die sie finden können. So muss sich blau immer an den Himmel und die Iris des Auges klammern, an Wegwarte, Glockenblume und Kupfersulfat, an die Spiegelung des Himmels in Seen und Meeren. Dasselbe, wenn die Seide weiB war. Dann hat weiss sich an den Schnee und den Reis klammem müssen, an Lilien und Perlen und gekochten Fisch, an Sterne und Zähne. Und die Seide, weiss oder blau, ist schon mit Hilfe des einen oder anderen dieser hilflosen Adjektive fähig geworden, ihre Einsamkeit als Substantiv zu verlassen, und ist jetzt unterwegs zum Schnee oder zum Himmel, zur Wegwarte oder zur Perle und weiter hinaus ins Unendliche. Oder das Unendliche ist unterwegs in die Seide hinein. Vielleicht sollte ich sagen: das scheinbar Unendliche. Oder verhält es sich so, dass das Unendliche von vornherein das scheinbar Unendliche umfasst? Zum Beispiel könnte ja selbst der längste Seidenfaden der Welt nie scheinbar unendlich lang genannt werden, wenn nicht die Vorstellung vom Unendlichen existierte. 

   Lu Chi hat das sicherlich gewusst, denn er hat die Seide sein ganzes Leben lang gekannt. Seine Familie war sehr wohlhabend und besass grosse Reisfelder und Maulbeerhaine am Delta des Yangtse und Bambushaine in der Hügellandschaft hinterm Hangchow-See. Lu Chi hat natürlich leicht das Seide auf Seide schreiben können, ohne an den Seidenspinner zu denken; aber ebenso oft hat er an ihn gedacht und besonders vielleicht an dessen Larve, die Seidenraupe, die von den Blättern des Maulbeerbaums lebt, und an dessen Seidengespinst, worin sie sich zu einem kleinen Kokon verpuppt. Das äussere Gespinst ist ziemlich verfilzt, das innere am ehesten pergamentähnlich, das mittlere ist für die Seidenherstellung das feinste, aber es macht einen zusammenhängenden Seidenfaden von etwa viertausend Meter Länge aus. Vielleicht hat Lu Chi also doch nie das Wort Seide schreiben können, ohne an diese viertausend Meter Seidenfaden in jedem einzelnen Kokon zu denken. Sommer um Sommer hat er gesehen, wie die Seidenraupen im Maulbeerhain zu Tausenden ihre Häppchen Maulbeerblatt in Hüllen aus scheinbar unendlich langen Seidenfäden verwandelten. Scheinbar unendlich oder unendlich? Vielleicht hat Lu Chi sich nur gesagt, dass das scheinbar Unendliche dasjenige ist, das so aussieht, wie das Unendliche aussähe, wenn das Unendliche gesehen werden könnte. Oder vielleicht hat er gedacht, dass das Unendliche nicht nur das scheinbar Unendliche umfasst, sondern dass es so unendlich ist, dass es auch in seiner eigenen Scheinbarkeit inbegriffen ist, so dass er in dem Augenblick, da der Seidenfaden über den Webstuhl hin- und herwanderte, wirklich imstande war zu sehen, wie das Unendliche in jeden einzelnen Meter Seide hineingewebt wurde. 

   Vielleicht aber gebrauchte Lu Chi überhaupt nie Adverbien. Vielleicht gibt es derartige Adverbien auf chinesisch ganz einfach nicht. Ich könnte das untersuchen lassen. Aber eigentlich ist es ohne Bedeutung für meine Schwierigkeiten hier. Ich müsste ganz einfach Adverbien vermeiden. Soweit wie möglich. Aber Adverbien sind recht eigenwillig. Und ziemlich aufdringlich. Sie finden immer ein Schlupfloch. Wie jetzt das Adverb scheinbar. Es musste sich unbedingt vor das Adjektiv, unendlich stellen. Ärgerlich, wo es sich ohne grösseren Schaden vor so viele andere Adjektive hätte stellen können. Scheinbar einsame Adjektive. Scheinbar hilflose, scheinbar unbeweglich(e). Aber Recht muss Recht bleiben. Es sieht so aus, als stünde der Platz vor unendlich meist gähnend leer und als hätten nicht sonderlich viele Adverbien Lust, sich gerade auf diesen Platz zu stellen. Weder recht unendlich, ziemlich unendlich noch sehr unendlich. Nicht einmal wahnsinnig unendlich oder nur ungewöhnlich unendlich. Vielleicht konstant unendlich. Aber scheinbar kam zuerst. Scheinbar unendlich. Und wie alle anderen Adverbien hat es etwas Bevormundendes an sich. Etwas Abschätzendes. Bewertendes. So dass Substantiv und Adjektiv nur mit Mühe alleine zusammensein und sich frei bewegen dürfen. Man sehe sich nur das Zitat von Lu Chi an. Hier wäre das Adverb völlig vernichtend gewesen. »In einem einzigen Meter Seide findet sich der scheinbar unendliche Weltraum.« So behandelt man die Seide nicht. Schon gar nicht, wenn man Lu Chi heisst und auf sein eigenes und das Vorstellungsvermögen anderer vertraut. 

   Wenn man glaubt, man könne über Lu Chis Seidensatz Schatten logischer Fragen werfen, wenn man geradezu meint, was er über die Seide und den Weltraum schreibt, sei unwahr, oder es darauf reduziert, eine sogenannte poetische Wahrheit zu sein, dann hat man Lu Chi nicht verstanden. Lu Chi zufolge ergibt es keinen Sinn, der Poesie logische Fragen zu stellen. Die poetische Sprache ist unendlich, während die logische Sprache nur scheinbar unendlich ist. Die Sprache ist überhaupt vorlogisch, während das Logische eine Spezialität mit beschränkter Reichweite ist. Eine sehr nützliche Spezialität, die uns ermöglicht, objektiv über das zu sprechen, was wir eine objektive Welt nennen. Aber auch eine sehr gefährliche Spezialität, weil wir offenbar eine Neigung dazu haben, diese objektive Welt mit der Welt als solcher zu verwechseln. Aber Lu Chi lässt sich nicht dazu narren, die Sprache kleiner zu machen als die Wirklichkeit, mit der sie zusammenhängt. Die Sprache kann nicht von der Welt getrennt werden, ohne dass die Welt von sich selbst getrennt wird. Deshalb antwortet Lu Chi, schon bevor diese vorhersagbaren Fragen gestellt sind, dadurch, dass er seinen Seidensatz in Begleitung eines anderen Satzes, eines Sprachsatzes, auftreten lässt: »In einem einzigen Meter Seide findet sich der unendliche Weltraum; die Sprache ist eine Sintflut, aus einem kleinen Winkel des Herzens.« Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz setzt er in zwei parallelen Sätzen zusammen, die erst weit ausserhalb des Gesichtsfeldes zusammenlaufen und sich vereinen. 

   Das ganze Buch Lu Chis über die Kunst zu schreiben besteht, mehr oder weniger ausgesprochen, aus solchen Parallelläufen, aus zweizeiligen Strophen, die zwar gereimt sind, die dennoch aber nicht als eine besonders gebundene Form erscheinen, weil die einzelne Verszeile unregelmässig ist, ungefähr wie in einem Prosagedicht. Diese besondere Form heisst auf chinesisch fu. Die Fu-Form wurde früher in langen erzählenden Gedichten über historische Ereignisse benutzt oder in Huldigungsgedichten an Fürsten oder Führergestalten überhaupt. Aber Lu Chi schuf eine Erneuerung der Fu-Form, indem er sie in seiner Poetik benutzte. Das Wort bildet obendrein die zweite Hälfte vom Titel des Buches, Wen fu. Äusserlich ist es kein sehr umfassendes Buch. Etwa 30 Seiten mit 21 Texten, die recht bündige Titel haben – Titel, die hervorheben, was wichtig ist, wenn man als Dichter mit Worten arbeitet. Es geht um einfache, aber sehr komplizierte Dinge, als da sind: wie man anfängt, wie man Worte wählt, oder um Harmonie, um Originalität, um Angst, um Inspiration oder darum, wie man eine Form findet, und Lu Chi macht geradezu Vorschläge dafür, welche Formen es jedenfalls gibt, einer der Texte heillt nämlich ganz einfach Gattungskatalog. Trotz der einfachen Konzentration auf die Praxis sind die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz in sämtlichen Texten zugegen, verwoben in einem lebendigen Muster. Ein Muster, das ununterbrochen gebildet und verwandelt wird dadurch, dass die, Dinge in ihrer Begleitung durch die Worte entstehen. So dass die Welt, die einmal von selbst entstand und mit den Menschen den Worten zu entstehen ermöglichte, jetzt ausserdem noch im Gedicht entsteht als Bewusstsein ihrer selbst, ihrer eigenen Entstehung und ihres anhaltenden Entstehens. 

   Alle Verben sind sehr fügsam. Sie entstehen von selbst, dadurch, dass die Bewegung entsteht. Sie bewegen sich und lassen sich bewegen. Sie halten alles in Bewegung, auch sich selbst. Sie rücken umher und wechseln Identität und heben für eine Weile die Einsamkeit jedes Substantivs auf. Sie sind immer auf Wanderschaft und stellen sich immer ganz vorne hin, wenn gefragt und untersucht werden, wenn präzisiert werden soll und neue Möglichkeiten ausgedacht werden sollen. So sind alle Verben sehr offen und werden mit grosser Leichtigkeit immer mehr. Sie spalten das Verbum sein in unzählige Varianten auf. Einzelne Verben halten sich mehr oder ganz für sich. Zum Beispiel halten sich sollen, können, müssen und wollen für sich, ausserhalb der üblichen Veränderlichkeit der Verben. Sie treten als eine Art konstanter Marköre auf, die ab und zu hereintreten, um den gewöhnlichen Verben einen Schubs in die richtige Richtung zu geben. Aber insgesamt sind die Verben fluktuierend, so dass man versucht ist zu sagen, dass der ganze Sprachstrom der Strom der Verben ist. Nicht zuletzt die Verben machen die Sprache zu einer Sintflut, zu einer Rede, die alles überschwemmt. Dieses Allesüberschwemmende, das aus einem kleinen Winkel des Herzens zur Sprache wird, diese Seide, die den unendlichen Weltraum enthält, dieses unaufhaltsame Hin- und Herströmen zwischen Bewusstsein und Sehen ist undenkbar ohne die Energie von den Verben, vereinigt in dem Verbum sein. Das es möglich macht, zugleich zu unterscheiden und nicht zu unterscheiden, was in was ist. Die Sprache ist im Herzen, das in der Sprache ist. Der Raum ist in der Seide, die im Raum ist. 

   Lu Chi versucht in Wen fu, dieses Mysterium als die Selbstverständlichkeit zu fassen, die es ist. Nicht zuletzt mit Hilfe des Wortes Wen versucht er, es zu fassen. Das Wort wen ist eines der ältesten Wörter im Chinesischen, mindeste dreitausend Jahre alt, und auch zu dem Zeitpunkt, als man die Orakel-Knochen auf einen schwarzen Stein legte, damit sie wie Buchstaben im Weltraum leuchten könnten, bedeutete das Wort wen Kunst, in Gestalt von Literatur oder Bildhauerkunst. In seiner etymologisch ursprünglichsten Form bedeutet wen ganz einfach Muster oder Struktur, eine Struktur, bei der Bedeutung und Form so untrennbar miteinander verbunden sind, dass sich das eine nicht ohne das andere denken lässt, Form nicht ohne Bedeutung und Bedeutung nicht ohne Form. So bedeutet wen auch das Schreiben als den natürlichsten Ausdruck für die Tiefe oder das Zentrum des Bewusstseins, das auf chinesisch mit einem Wort bezeichnet wird, das Herz und Gemüt vermischt. Wenn Lu Chi das Wort wen gebraucht, erhält es deshalb eine Vielfalt von Bedeutungen. Nur die Oberfläche bedeutet Literatur, in Wirklichkeit bedeutet es auch Verantwortung; auch eine Verantwortung dafür, die Wahrheit zu sagen, die sich etwa dahingehend definieren lässt, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen. 

   Wenn man die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennt, dann bedeutet das nicht, dass die Namen genannt werden, um die Dinge zu repräsentieren, und es bedeutet nicht, dass die Sprache die Wirklichkeit als etwas von der Sprache Getrenntes meint. Eher tritt eine Art Schwellenzustand ein in dem Sprache und Welt sich mit Hilfe voneinander ausdrükken. Die Welt, die ihre natürliche Verlängerung in der Sprache hat, kommt zum Bewusstsein ihrer selbst, und die Sprache, die ihren Hintergrund in der Welt hat, wird zu einer Welt in sich selbst, zu einer ständig mehr entfalteten Welt. So kann man sagen, dass man in der Dichtung etwas zu produzieren versucht, wovon man bereits selber ein Produkt ist. Das Herz, das aus seinem eigenen kleinen Winkel der Welt von den Zufälligkeiten aller Welt überströmt, die es mit Hilfe vom Herzklopfen eines ganzen Lebens aufgesammelt hat, um vielleicht eine Ordnung erkennen zu können, bevor es zu schlagen aufhört – und die Seide, die in ihrem gewebten Zusammenhang aus Natur und Kultur eine Leere illudiert, so entscheidend neugeschaffen und möglichkeitsgefüllt, dass sie bereit ist, den unendlichen Weltraum aufzunehmen und ihn zu enthalten, ihn nach innen zu krempeln wie in einem Möbiusband und ihn in dieser unergründlichen Schwingung zwischen aussen und innen verbleiben zu lassen – über diese Grössen und ihre Verhältnisse, die Seide, den Raum, die Sprache, das Herz, könnten wir gar nicht sprechen, wenn wir nur Substantive, Adjektive, Adverbien, Verben zur Verfügung hätten. Oder richtiger: unser Gebrauch all dieser einsamen, hilflosen, eigenwilligen oder fügsamen Wörter wäre unmöglich, wenn sie nicht in all den Vergleichen und Relationen verankert wären, aus denen die Welt in sich selbst besteht und die diskret von den eher unsichtbaren Präpositionen vermittelt werden, die dadurch am besten geliebt werden können, dass sie so genau wie möglich gebraucht werden.

Alle Präpositionen sind am ehesten unsichtbar. Sie erhalten die Sprache auf dieselbe Weise, wie der Raum die Planeten trägt. In ihrer begrenzten Anzahl, oben, unten, aussen, innen, über, unter und so weiter, halten sie das Bewusstsein in derselben Art von Bewegung wie die Welt. Sie setzen alle Substantive auf ihren Platz im Verhältnis zueinander und bestärken uns stillschweigend darin, dass wir von vornherein in der Welt getragen sind von einer unerschöpflich großen, immer existierenden Vergleichsgrundlage. Ich habe mich einmal mit dem dänischen Sprachforscher Viggo Brøndal beschäftigt, der unter anderem ein Buch geschrieben hat, das Die Theorie der Präpositionen heisst. Darin versucht er, die Präpositionen zu systematisieren, so dass sie sich dem Gedanken nähern, dass die Verhältnisse, auf die sie sich in der Sprache beziehen, von vornherein gegeben sind in der Welt, der die Sprache entspringt. Er teilt sie deshalb in Kategorien ein, die Namen haben wie Symmetrie, Transitivität, Kontinuität, Konnexität, Variabilität, Extension, Integrität, Universalität. Über Universalität schreibt Brøndal abschliessend: » Die am allerweitesten gehenden Synthese würde schliesslich alle Zonen und Grade von Relationsarten umfassen, abstrakte, konkrete und komplexe, primäre und sekundäre, die zentrale und die Peripherie. Eine solche Totalrelation müsste ihrer Natur nach auf der Grenze des Denkens selbst stehen, sie müsste als Ausdruck für die Qualität des Erlebnisses von nahezu mystischem Charakter sein.« 

   Welches Mysterium? Vielleicht dies, dass die Formen vorher in der Welt existieren. Ein Baum existiert in seiner Baumgestalt, und deshalb kann auch mein Leben oder das Leben meiner ganzen Familie diese Gestalt annehmen. Aber auf eine Weise, nicht wie ein Vergleich, eher wie eine Form, die dieselbe ist. Und die auch eine Gedichtform sein könnte. Und hier sollen Formen nicht als statische betrachtet werden, sondern als fortlaufende Prozesse, die ab und zu verdeutlicht werden, auch in einem Zusammenspiel mit unserem Sinnesapparat. So betrachtet, ergibt sich mehr Ähnlichkeit als Unterschied, wenn man die chemische Arbeit der Zellen, den Körper als Form zu erhalten, zusammenhält mit der Arbeit der Wörter, die Welt als Gedicht zu erhalten. Das Wort hat im Prinzip dieselbe Chemie wie diejenige, deren es dazu bedarf, die Kristallisationsprozesse in Gang zu setzen. Von aussen gesehen, in ihrem zufälligen Zustand, zum Beispiel in einem Wörterbuch, ähneln die Wörter dem Chaos. Aber eigentlich sind sie immer in Ordnung, sozusagen bei ihren Phänomenen zu Hause. Wir glauben indessen, es sei immer an uns, die Wörter in Sätze und Gegensätze zu ordnen, ehe das Ganze sich ordnet. Nichts kann verkehrter sein. Die Ordnung, zu der wir uns hinzuordnen versuchen, gibt es vorher. Der Gegensatz, den wir zwischen Chaos und Ordnung errichten, ist selbsterfunden. Wir erfinden eine bestimmte Sehweise, welche die Dinge für uns ordnet, aber ohne zu verstehen, dass diese Sehweise bereits eine Ordnung ist. In diesem Labyrinth aus Bewusstsein, mit Welt verwachsen, befinden wir uns, wo es ungewiss ist, wer wen verfolgt, die Welt oder das Bewusstsein.

Der französische Dichter Bernard Noël hat eine sehr schöne Beschreibung der Situation des Dichters in diesem Zusammenhang: »Man schreibt, um bis zum letzten Wort zu gelangen, aber die Schreibbewegung schiebt es ständig auf. Das letzte Wort kann in Wirklichkeit an jeder beliebigen Stelle im Text sein. Oder vielleicht ist es der ganze Text. Wenn ich schreibe, laufe ich somit hinter einem Schatten her – und ebendies, dass ich laufe, bringt den Schatten dazu, sich zu bewegen.« 

    In diesem Licht müssen die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz gesehen werden. Sie sind Gebiete desselben Schattens, hinter dem wir herlaufen. Seidenschatten, Raumschatten, Sprachschatten, Herzschatten, und dadurch, dass wir hinter ihnen herlaufen, bewegen sie sich ineinander und ganz in den Schatten Gottes hinein. Oder wie Lu Chi nicht geschrieben hat, aber wohl hätte schreiben können: Die Dinge verschwinden in den Schatten voneinander und von sich selbst; aber die Gedichte kehren mit einem Widerschein von diesem Schatten zum Licht zurück

Uit:

Christensen, Inger, Der Geheimniszustand und das “Gedicht vom Tod”. Essays. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel, München 1999, (Carl Hanser Verlag), pag 32-41



Der Geheimniszustand 

Was man spürt, wenn man ein Gedicht liest, sind die Bewegungen des Gemüts. Nicht nur das Gemüt des Dichters und nicht nur das eigene, sondern beide im Gedicht vermischt, als wäre das Gedicht das Neutrum des Gemüts. 

   Während man liest, kann man fühlen, dass die Sprache allzu leicht ist, aber wenn das Gedicht gut ist, werden auch die schwersten Themen in dieser Leichtigkeit verborgen sein; vielleicht weil das einzelne Wort so sehr mit Energie geladen ist, dass es Millionen von Erlebnisweisen enthält. 

   Dieselben Millionen von Erlebnisweisen können benutzt werden, wenn man ein Gedicht schreibt. Alle sind in allen enthalten. 

   Aber nur, wenn das Gedicht das ist, was wir schön nennen, nur dann enthält es alle diese möglichen Erlebnisweisen; ein Gedicht, das allzu gewöhnlich ist, enthält nichts anderes als die eigene Erlebnisweise des Dichters; auch wenn sie nicht sehr gewöhnlich sein kann. 

   Wenn das Gedicht gut ist, haben die Worte so viel Energie, dass auch die schwersten Themen schweben können; wenn das Gedicht schlecht ist, beschwert es nicht nur alles, was der Leser hineinzulegen versucht, sondern auch sich selbst. 

   Es gibt keine sicheren Methoden dafür zu entscheiden, ob ein Gedicht schön oder banal, gut oder schlecht ist. Das Beste, was man in der Praxis tun kann, ist, die Mengen von Gedichten zu lesen, die von anderen geschrieben sind; aber auch wirklich die Gedichte zu lesen, die man selber schreibt, d. h., sie die ganze Zeit, während man sie schreibt, umzuschreiben bis sie zuletzt irgendein Licht zurückwerfen, irgendeine Einsicht, so als wären sie von anderen, von einem anderen geschrieben. 

   Es ist vielleicht nicht so schwer, ein gutes Gedicht zu erkennen, wenn es erst einmal da ist. Aber wie kommt man ihm auf die Spur, bevor es da ist? 

   Wie bekommt man vage Gedanken und Vorstellungen dazu, sich mit der Wirklichkeit zu verbinden, die sie hervorrufen soll, damit nicht bloss die Gedanken zum Ausdruck kommen, sondern auch die Wirklichkeit selber? Und wie bekommt man Form und Inhalt dazu, in- und miteinander zu leben und heranzuwachsen, wie es z. B. mit dem Wachsen der Pflanzen in der Natur der Fall ist? 

   All das kann man studieren und sich anlesen und kann darüber theoretische Bücher schreiben, und es ist alles von Nutzen, aber nur von der Form von Nutzen, die ganz in Vergessenheit hinabsinken muss, bevor sie zeigen kann, von welchem Nutzen sie ist. Denn Gedichte schreiben, das heisst doch immer auf nacktem Boden stehen und von vorne anfangen und jedesmal das einzelne Gedicht so schreiben, als wäre es das erste Gedicht in der Welt. 

   Aber eben auch nur so, als wäre es das erste. Das Beste, aber Unmögliche wäre, wenn man all die Gedichte, die geschrieben sind, lesen und sich an sie erinnern könnte, um sie im entscheidenden Augenblick zu vergessen. Auf dieselbe Weise vergessen wie seinerzeit, als man in der Schule schreiben lernte und plötzlich eines Tages die Bewegungen der Hand wie auch des Bleistifts vergessen hatte und selber schreiben konnte, von innen. Wenn man darüber nachdenkt, etwas von einem Mysterium. 

   Gedichte zu schreiben, ist genausoviel von einem Mysterium. Nicht, weil daran etwas Mystisches oder Feierliches ist. Oder etwas Religiöses. Es ist sozusagen ein neutrales Mysterium, ist vorgegeben, weil man in der Dichtung gezwungen ist, die Sprache in ihrer ganzen Verbundenheit mit der Wirklichkeit zu benutzen. Diese Verbundenheit, sie ist ein Mysterium. Sie ist es, worein die Poesie eintreten muss. 

   Sie kann nicht wie unsere logisch-praktische Sprache von Teilen der Wirklichkeit absehen und zu Bedingungen, die Wir vorher abgesprochen haben, so tun, als wäre es menschenmöglich, die Wahrheit über die Welt zu sagen. 

   Vielleicht kann die Poesie gar keine Wahrheiten sagen; aber sie kann wahr sein, weil die Wirklichkeit, die mit den Worten folgt, wahr ist. Diese geheimnisvolle Gefolgschaft zwischen Sprache und Wirklichkeit ist die Erkenntnisweise der Poesie. Ein Mysterium, das sehr wohl der Geheimniszustand sein könnte, von dem Novalis spricht, wenn er sagt: »Das Äussere ist ein in Geheimnisszustand erhobnes Innre.« 

   Seinen eigenen Zugang zu diesem Geheimniszustand zu finden, ist schwierig. Man würde natürlich davon träumen, sagen zu können, dass es sich mit derselben Leichtigkeit machen liesse, mit der eine Pflanze Blätter und Blüten treibt. So dass das Gedicht aus dem inneren Himmel des Samenkorns in seiner ganzen äusseren Entfaltung emporgehoben würde wie genau diese Pflanze, genau dieses Gedicht. 

   In diesem Geheimniszustand steht der Dichter mitten in einem Universum, das gar keine Mitte hat. Wenn man das Innere zum Äusseren hinaufheben will, muss man mit dem Äusseren anfangen, aussen anfangen in all dem Sichtbaren, das durch das ganze Leben hindurch, das man gelebt hat, in seinen entsprechenden Formen von Sichtbarkeit im Inneren versteckt und vergessen worden ist. Was was wecken soll, das Innere oder das Äussere, das ist ungewiss, sicher aber ist, dass uns, weil wir die gegenseitige Verbundenheit der Dinge von Kindesbeinen an kennen, zuallererst der Zufall zu Hilfe kommen wird; vielleicht in Gestalt des Frühjahrsregens oder des Herbststurms, der hellen Nächte des Sommers oder des Rauhreifs im Winter, Phänomene, die wie jedes beliebige zufällige Phänomen das Innere dermassen in Bewegung setzen können, dass Sporenfäden von Gedanken gebildet werden, die hinausreichen und versuchen, Wort und Phänomen dazu zu bekommen, dass sie zusammenhängen. 

   Bevor man sich ans Papier setzt, um vielleicht, vielleicht nicht ein Gedicht zu schreiben, und später, wenn man stundenlang dasitzt, beidemal ist es so: als hätte man sich verirrt. Die Welt, die einen Augenblick davor beim Morgenkaffee recht überschaubar und alltagsartig war, ist plötzlich wieder allzu gross geworden, und obwohl das Bewusstsein in alle Richtungen wandert und seine kleinen Sprachfetzen mitbringt, kann es nicht genau den Stein, die Pflanze, das Ereignis, vielleicht die Unbegreiflichkeit finden, von der aus es mit Hilfe von Worten zur Welt zurückfinden kann. 

   Zwischendurch hilft es, den Blick abwesend zu machen und bloss auf Klang und Rhythmus der Worte zu lauschen, sich voranzutasten und so lange auf diese Musik zu lauschen, bis man schliesslich weiss, dass die Musik eine Bedeutung hat, sie muss nur hervorgelockt werden; so dass die Worte nicht sich selbst in ihrem eigenen Wohllaut überlassen werden, sondern durch dieses beharrliche Lauschen, diese Gewichtung aus Fülle, Geschwindigkeit und Farbe durch die aufgesperrten Augen am Ende zu der Begegnung mit dem Frühjahrsregen oder dem Rauhreif oder womit sonst gebracht werden und anfangen können, neue Worte und gesehene oder ungesehene Dinge einzusammeln. 

   So ist es am Anfang; grosse Unruhe und Verwirrung, aber auch eine Geduld in der Angst vor dem Sprung, weil man weiss, dass andere vorher hineingesprungen sind. Zuinnerst weiss man, dass der Anfang eine Brücke ist, die vorher schon gebaut ist, aber erst, wenn man in den leeren Raum hinausgeht, kann man die Brücke unter den Füssen spüren. 

   Die Angst davor, in die Leere hinauszutreten, ist verständlich. Zwar gibt es in der Geschichte der Poesie Karten aller Arten von Landschaften, wo alle möglichen Brücken eingezeichnet sind, aber im selben Augenblick, wo der erste Schritt getan werden muss, zeigt sich, dass die einzelne Landschaft sich wegbewegt, die Brücke sich wegbewegt hat, zusammen oder jede für sich haben sie sich wegbewegt, und die Karte, die sonst ebenso zuverlässig wirkte wie ein Resümee der Weltliteratur, erscheint jetzt nur als eine Möglichkeit oder bloss ein Vorschlag, wie jede beliebige Landschaft eventuell aussehen könnte an dem Tag, da man hingelangt. Man hat sich also wirklich auf eine besondere Weise verirrt. Man muss nämlich einen Weg durch die Landschaft finden, wenn man die Karte zeichnen können will, aber zugleich muss man die Karte zeichnen, wenn man einen Weg durch die Landschaft finden können will. 

   Hier, indem man versteht, dass die Brücke gebaut werden muss, indem man sich bewegt, hier muss man seine Worte mit Bedacht wählen. Und Bedacht bedeutet nicht notwendigerweise Vorsicht, es kann auch Mut und Entschlossenheit, Klarsicht und Grossherzigkeit bedeuten. Man kann sich vorschleichen oder um sein Leben springen und in beiden Fällen merken, dass Boden unter den Füssen ist. Man kann kriechen und klettern, tanzen und schweben oder sich selbst dazu überlisten, ganz gewöhnlich zu gehen. So oder so ist das einzige, das etwas bedeutet, oh man seine Worte mit solchem Bedacht wählt, dass die Phänomene den Worten entgegenkommen, damit die Brücke weiterhin betreten werden und der leere Raum zu Landschaft gefüllt werden kann. 

   Mit Bedacht wählen heillt nicht nur, zwischen allen zufälligen Worten wählen. Man muss genau das zufällige Wort wählen, das notwendig gemacht werden kann. Ein Wort notwendig machen heisst Wort und Phänomen verketten oder verschmelzen. Nicht so, dass die Zufälligkeit aufgehoben wird, denn auch nach der Wahl bleibt das Wort genauso zufällig wie vorher. Aber in all seiner Zufälligkeit ist es mit dem Phänomen zusammen in den Geheimniszustand versetzt wo die innere und die äussere Welt sich zusammen befinden: als wären Sie nie voneinander getrennt gewesen. 

   Wenn in diesem Geheimniszustand die ersten Stationen errichtet sind , nimmt das Gedicht allmählich form an, die Landschaft weitet sich, und Bilder halten allmählich von selbst Wort und Phänomen zusammen. Wo vorher nichts war, ist jetzt etwas; und zudem etwas, das weiterhilft, weil all die verstreuten Vorposten, die in der Landschaft errichtet sind, allmählich Rückmeldung geben, all die kleinen Enklaven aus zusammenfallendem sprachlich Empfundenen, die jetzt als Realitäten auftreten, alles, was in den Geheimniszustand getreten ist, gibt jetzt Rückmeldung und zeigt unmittelbar nicht bloss, wie geschrieben werden muss, sondern in erster Linie, warum und was geschrieben werden kann, worüber die ganze Zeit zu schreiben beabsichtigt war, obwohl man unterwegs geglaubt oder vielleicht geradezu gehofft hat, dass es etwas ganz anderes war. 

   Viele Dichter haben im Laufe der Zeit versucht, dieses Unhandgreifliche zu beschreiben, und ihre Äusserungen kreisen fast immer um etwas, das sich zu dem Erlebnis eindampfen lässt, dass die Worte plötzlich übernehmen oder dass das Gedicht sich selbst schreibt oder dergleichen. 

   Jedenfalls sitzt man nicht mehr da und starrt entweder z. B. auf das Wort »Wolkendecke« oder auf die tatsächliche Wolkendecke am Himmel draussen, während man überlegt, ob es im Gedicht mit dabei sein soll oder nicht. Das ist längst entschieden. 

   Auf dieselbe Weise ist entschieden, ganz gleich, ob das Wort »Wolkendecke« mit dabei ist oder nicht, ob es wirklich das ist, worüber geschrieben wird. Denn im selben Augenblick, da die Worte übernehmen, bestimmen die Bilder, Vergleiche, Relationen des Gedichts, ob ein Wort genannt sein soll oder nicht, damit das, worüber geschrieben wird, genau dieses Wort ist. 

   Ja, in diesem glücklichen Augenblick, wo alle Entscheidungen dadurch getroffen werden, dass und indem das Gedicht sich selbst schreibt, ist vielleicht geradezu entschieden, dass das, worüber geschrieben wird, etwas ist, das man nicht genannt hat, etwas, das sich bis jetzt im Gedicht versteckt gehalten hat, um zuletzt das Bewusstsein mit etwas Wichtigem hervorzulocken, Krieg, Frieden, Glück, Tod oder dergleichen, alles Zeichen dafür, dass all die grossen Worte ihren sehr unzugänglichen Geheimniszustand haben, gerade der Krieg z. B.: jahrelang, bevor das Schreiben darüber losging, hatte man das Gefühl und die Gewohnheit entwickelt zu denken, über ihn zu schreiben, sei für immer unmöglich, jedenfalls unmöglich in einem Gedicht. 

   Wenn ich mich dafür entschieden habe, über diesen Geheimniszustand von einer poetischen Praxis aus zu sprechen, dann bestimmt nicht deshalb, weil ich sagen will, dass er etwas Besonderes für die Poesie ist. 

   Die Poesie ist nur eine der vielen Erkenntnisformen des Menschen, und durch sie alle verläuft dieselbe Scheidelinie, ob es sich nun um Philosophie, Mathematik oder Naturwissenschaft handelt. 

   Eine Scheidelinie zwischen denen, die glauben, der Mensch mit seiner Sprache stehe ausserhalb der Welt, und denen, die erleben, dass ein Mensch mit Sprache ein Teil der Welt ist; und dass es deshalb notwendig wird zu verstehen, dass, indem ein Mensch sich ausdrückt, auch die Welt sich ausdrückt. 

   Vermutlich hören wir alle täglich, es sei ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs, wie die Regenwälder leben und atmen. Aber warum sollte es nicht, auf dieselbe Weise ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs sein, wie wir als Menschen leben und atmen und uns ausdrücken, z. B. über den Zustand der Regenwälder. 

   Wir müssen wissen, dass wir nicht hinauskommen können. Wir können so tun, als ob. Aber dies, dass wir tun können, als ob, ist noch immer ein Teil davon, dass wir nicht hinauskommen können. Wir können nicht aussserhalb der Erkenntnis erkennen. 

   Kriege, auch Ideologiekriege, können nur geführt werden , weil Leute glauben, es sei möglich, hinauszutreten und eine bestimmte Wirklichkeit abzugrenzen. 

   Ab und zu wünsche ich mir eine Wettervorhersage für die Bewegungen von Menschen, für die Gemütsbewegung, die uns dazu bringt, Mauem zu stürzen, den Hunger, der uns dazu bringt, wie entlaubte Bäume durch Wüstensand zu wandern, das weisshemdige Schwärmen, das uns dazu bringt, uns wie Insekten an der Börse zu drängen – ich verstehe nicht, warum die Höhen der Erkenntnis mir nicht diese Wettervorhersage gebracht haben, die all diese menschlichen Hochdruckgebiete, Tiefdruckgebiete, Zyklone als Teile vom augenblicklichen Zustand des Erdballs erklärt. 

   Um so weniger, als ich von Meteorologen wie auch anderen Wissenschaftlern, die ich kennengelernt habe, weiss, dass sie den Geheimniszustand kennen. Sie sagen vielleicht nicht, dass die Worte plötzlich übernehmen, aber sie sagen, dass das Problem sich plötzlich selbst löst; sie sagen nicht, dass das Gedicht sich selbst schreibt, nein, sie sagen geradezu, dass die Dinge selbstredend sind. 

   Jahrelang rackern sie sich ab, damit Bewusstsein und Vision zusammenhängen, und traben ruhelos in diversen Universitätsparks herum, bis die Welt sich plötzlich in sie einschreibt und die Trennung zwischen Welt und Mensch ausgelöscht ist, so dass die Welt sich selbst durch das Bewusstsein des Menschen schreiben kann. 

   Das lässt sich nur machen, weil wir an die Formen der Natur gebunden sind, dadurch, dass wir selber eine ihrer vielfältigen Formen sind. 

   Deshalb ist es auch nicht Poeten, Wissenschaftlern oder anderen Bearbeitern des Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Welt vorbehalten, Zusammenhänge und Relationen zwischen Dingen in aller Welt zu erkennen. 

   Diese Erkenntnis liegt bereits in der Welt. In all den Vergleichen, aus denen die Welt in sich besteht. Zum Beispiel ist es undenkbar, dass die Welt ganz darum herumgekommen wäre, zu irgendeinem Zeitpunkt zu sagen: der Apfel ist rund, wie die Sonne rund ist, oder unzählige ähnliche Dinge. 

   Das ganze Relationsnetz zwischen allen existierenden Phänomenen, die unsere Welt ausmachen, muss uns zu einem immer raffinierteren Verständnis dafür führen, dass unsere Kulturformen, all die menschengeschaffenen Ausdrucksformen, darunter die vielfältigen Formen der Poesie, zwar als etwas in sich betrachtet werden können, vor allem aber die Formen der Natur sind. 

   Deshalb appelliere ich an das Gefühl, von einer unfassbar grossen, bereits existierenden Gefühlsgrundlage getragen zu sein. Insbesondere daran, dass man als Dichter lernen muss, die Präpositionen zu lieben, weil nämlich sie, fast unbillig unsichtbar, wie sie sind, das Bewusstsein in derselben Art von Bewegung halten wie die Welt. 

   Es wird also unnötig, sich unbedingt selbst zu realisieren, als Dichter zum Beispiel, nur um zu spüren, dass etwas in der Welt zugegen ist, statt sich selbst zu entrealisieren, weil alles in der Welt bereits zugegen ist. Deshalb ist in dem Ganzen auch eine Art Trost. Wenn wir ausserhalb der Welt gesetzt sind, dann deshalb, weil wir uns selbst ausserhalb gesetzt haben. Wir glauben soviel. Man soll aber nicht soviel glauben. Man soll wissen. Dass man sich bereits in dem Geheimniszustand befindet, den man sucht. 

Uit: 

Christensen, Inger, Der Geheimniszustand und das “Gedicht vom Tod”. Essays. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel, München 1999, (Carl Hanser Verlag), Pag. 48-56