WER IST NIETZSCHES ZARATHUSTRA?
Die Frage lässt sich, so will es scheinen, leicht beantworten. Denn wir finden die Antwort bei Nietzsche selbst in klar gesetzten und sogar gesperrt gedruckten Sätzen. Sie stehen in jenem Werk Nietzsches, das eigens die Gestalt des Zarathustra darstellt. Das Buch besteht aus vier Teilen, ist in den Jahren 1883 bis 1885 entstanden und trägt den Titel: »Also sprach Zarathustra«.
Nietzsche gab diesem Buch einen Untertitel auf den Weg. Er lautet: »Ein Buch für Alle und Keinen«. »Für Alle«, das heisst freilich nicht: für jedermann als jeden Beliebigen. »Für Alle«, dies meint: für jeden Menschen als Menschen, für jeden jeweils und sofern er sich in· seinem Wesen denkwürdig wird. » … und Keinen«, dies sagt: für niemanden aus den überallher angeschwemmten Neugierigen, die sich nur an vereinzelten Stücken und besonderen Sprüchen dieses Buches berauschen und blindlings in seiner halb singenden, halb schreienden, bald bedächtigen, bald stürmischen, oft hohen, bisweilen platten Sprache umhertaumeln, statt sich auf den Weg des Denkens zu machen, das hier nach seinem Wort sucht.
» Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen.« Wie unheimlich hat sich dieser Untertitel des Werkes in den siebzig Jahren seit seinem Erscheinen bewahrheitet – aber in genau umgekehrtem Sinne. Es wurde ein Buch für jedermann, und kein Denkender zeigt sich bis zur Stunde, der dem Grundgedanken dieses Buches gewachsen wäre und seine Herkunft in ihrer Tragweite ermessen könnte. Wer ist Zarathustra? Wenn wir den Haupttitel des Werkes aufmerksam lesen, gewahren wir einen Wink: »Also sprach Zarathustra«. Zarathustra spricht. Er ist ein Sprecher. Von welcher Art? Ein Volksredner oder gar ein Prediger? Nein. Der Sprecher Zarathustra ist ein »Fürsprecher«. In diesem Namen begegnet uns ein sehr altes Wort der deutschen Sprache, und zwar in mehrfältiger Bedeutung. »Für« bedeutet eigentlich »vor«. »Fürtuch« ist der heute noch im Alemannischen gebräuchliche Name für die Schürze. Der »Fürsprech« spricht vor und führt das Wort. Aber »für« bedeutet zugleich: zugunsten und zur Rechtfertigung. Der Fürsprecher ist schliesslich derjenige, der das, wovon und wofür er spricht, auslegt und erklärt. Zarathustra ist ein Fürsprecher in diesem dreifachen Sinne. Doch was spricht er vor? Zu wessen Gunsten spricht er? Was versucht er auszulegen? Ist Zarathustra nur irgendein Fürsprecher für irgend etwas, oder ist er der Fürsprecher für das Eine, was den Menschen vor allem und stets anspricht?
Gegen Ende des dritten Teiles von »Also sprach Zarathustra« steht ein Abschnitt mit der Überschrift »Der Genesende«. Das ist Zarathustra. Doch was heisst »der Genesende«? »Genesen« ist das selbe Wort wie das griechische νέομαι, νόστοϚ. Dies bedeutet: heimkehren; Nostalgie ist der· Heimschmerz, das Heimweh. »Der Genesende« ist derjenige, der sich zur Heimkehr sammelt, nämlich zur Einkehr in seine Bestimmung. Der Genesende ist unterwegs zu ihm selber, so dass er von sich sagen kann, wer er ist. In dem genannten Stück sagt der Genesende:
»Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises – … «
Zarathustra spricht zugunsten des Lebens, des Leidens, des Kreises, und dies spricht er vor. Diese Drei: »Leben – Leiden – Kreis« gehören zusammen, sind das Selbe. Wenn wir dieses Dreifache als Eines und das Selbe recht zu denken vermöchten, wären wir imstande zu ahnen, wessen Fürsprecher Zarathustra ist und wer er wohl selbst als dieser Fürsprecher sein möchte. Zwar könnten wir jetzt durch eine grobschlächtige Erklärung eingreifen und mit unbestreitbarer Richtigkeit sagen: »Leben« bedeutet in Nietzsches Sprache: der Wille zur Macht als der Grundzug alles Seienden, nicht nur des Menschen. Was »Leiden« bedeutet, sagt Nietzsche in folgenden Worten: »Alles, was leidet, will leben … « (WW VI, 469), d. h. ·alles, was in der Weise des Willens zur Macht ist. Dies besagt: »Die gestaltenden Kräfte stossen sich« (XVI, 151 ). »Kreis« ist das Zeichen des Ringes, dessen Ringen in sich selbst zurückläuft und so immer das wiederkehrende Gleiche erringt.
Demnach stellt sich Zarathustra als der Fürsprecher dessen vor, dass alles Seiende Wille zur Macht ist, der als schaffender, sich stossender Wille leidet und so sich selber in der ewigen Wiederkehr des Gleichen will.
Mit dieser Aussage haben wir das Wesen Zarathustras auf eine Definition gebracht, wie man schulmässig sagt. Wir können uns diese Definition aufschreiben, dem Gedächtnis einprägen und sie bei Gelegenheit nach Bedarf vorbringen. Wir können das Vorgebrachte sogar noch eigens durch jene Sätze belegen, die in Nietzsches Werk, durch Sperrdruck hervorgehoben, ·sagen, wer Zarathustra sei.
In dem schon erwähnten Stück »Der Genesende« lesen wir:
»Du (nämlich Zarathustra) bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft …!«
Und in der Vorrede zum ganzen Werk (n. 3) steht:
»Ich (nämlich Zarathustra) lehre euch den Übermenschen.«
Nach diesen Sätzen ist Zarathustra, der Fürsprecher ein »Lehrer«. Er lehrt augenscheinlich zweierlei: die ewige Wiederkunft des Gleichen und den Übermenschen. Allein, man sieht zunächst nicht, ob und wie das, was er lehrt, zusammengehört. Doch selbst wenn sich der Zusammenhang aufklärte, bliebe fraglich, oh wir den Fürsprecher hören ob wir von diesem Lehrer lernen. Ohne dieses Hören und Lernen wissen wir nie recht, wer Zarathustra ist. So genügt es denn nicht, nur Sätze zusammenzustellen, aus denen sich ergibt, was der Fürsprecher und Lehrer von sich sagt. Wir müssen darauf achten, wie er es sagt und bei welcher Gelegenheit und in welcher Absicht. Das entscheidende Wort »Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft!« sagt nicht Zarathustra aus sich zu sich selber. Dies sagen ihm seine Tiere. Sie werden sogleich am Beginn der Vorrede des Werkes und deutlicher in ihrem Schluss (n. 10) genannt. Hier heisst es: »…als die Sonne im Mittag stand: da blickte er (Zarathustra) fragend in die Höhe – denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.« Wir ahnen schon in diesem geheimnisvollen Umhalsen, wie unausgesprochen im Kreisen des Adlers und im Ringeln der Schlange Kreis und Ring sich umringen. So erglänzt der Ring, der·anulus aeternitatis heisst: Siegelring und Jahr der Ewigkeit. lm Anblick der beiden Tiere zeigt sich, wohin sie selbst, kreisend und sich ringelnd, gehören. Denn sie machen nie erst Kreis und Ring, sondern fügen sich darein, um so ihr Wesen zu haben. Im Anblick der beiden Tiere erscheint Jenes, was den fragend in die Höhe blickenden Zarathustra angeht. Darum fährt der Text fort:
“Es sind meine Tiere!” sagte Zarathustra und freute sich von Herzen.
…Das Stolzeste Tier unter der Sonne und das klügste Tier unter der Sonne – sie sind ausgezogen auf Kundschaft.
Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe. Wahrlich lebe ich noch?«
Zarathustras Frage behält nur dann ihr Gewicht, wenn wir das unbestimmte Wort »Leben« im Sinne von »Wille zur Macht« verstehen. Zarathustra frägt: entspricht mein Wille dem Willen, der als Wille zur Macht das Ganze des Seienden durchherrscht?
Seine Tiere erkunden Zarathustras Wesen. Er frägt sich selber, oh er noch, d. h. ob er schon derjenige ist, der er eigentlich ist. In einer Notiz zu »Also sprach Zarathustra« aus dem Nachlass (XIV, 279) steht:
»Habe ich Zeit, auf meine Tiere zu warten? Wenn es meine Tiere sind, so werden sie mich zu finden wissen<. Zarathustras’s Schweigen«
So sagen ihm dann seine Tiere an der angeführten Stelle, im Stück »Der Genesende«, das Folgende, das wir über dem gesperrt gedruckten Satz nicht übersehen dürfen. Sie sagen:
»Denn deine Tiere wissen es wohl, o Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft -, das ist nun dein Schicksal!«
So kommt es ans Licht: Zarathustra muss allererst derjenige werden, der er ist. Vor solchem Werden schreckt Zarathustra zurück. Der Schrecken zieht durch das ganze Werk, das ihn darstellt. Dieser Schrecken bestimmt den Stil, den zögernden und immer wieder verzögerten Gang des ganzen Werkes. Dieser Schrecken erstickt alle Selbstsicherheit und Anmassung Zarathustras schon am Beginn seines Weges. Wer diesen Schrecken nicht aus allen oft Anmassend klingenden und oft nur rauschhaft sich gebärdenden Reden zuvor vernommen hat und stets vernimmt, wird nie wissen können wer Zarathustra ist.
Wenn Zarathustra der Lehrer der ewigen Wiederkunft erst werden soll, dann kann er mit dieser Lehre auch nicht sogleich beginnen. Deshalb steht am Beginn seines Weges das andere Wort: »ich lehre euch den Übermenschen.«
Bei dem Wort »Übermensch« müssen wir allerdings zum voraus alle falschen und verwirrenden Töne fernhalten, die für das gewöhnliche Meinen anklingen. Mit dem Namen »Übermensch« benennt Nietzsche gerade nicht einen bloss überdimensionalen bisherigen Menschen. Er meint auch nicht eine Menschenart, die das Humane wegwirft und die nackte Willkür zum Gesetz und eine titanische Raserei zur Regel macht. Der Übermensch ist vielmehr, das Wort ganz wörtlich genommen, derjenige Mensch, der über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen. Eine Nachlassnotiz zum »Zarathustra« sagt (XIV, 271):
»Zarathustra will keine Vergangenheit der Menschheit verlieren, Alles in den Guss werfen.«
Doch woher stammt der Notruf nach dem Übermenschen? Weshalb genügt der bisherige Mensch nicht mehr? Weil Nietzsche den geschichtlichen Augenblick erkennt, da der Mensch sich anschickt, die Herrschaft über die Erde im Ganzen anzutreten. Nietzsche ist der erste Denker, der im Hinblick auf die zum ersten Male heraufkommende Weltgeschichte die entscheidende Frage stellt und sie in ihrer metaphysischen Tragweite durchdenkt. Die Frage lautet: ist der Mensch als Mensch in seinem bisherigen Wesen für die Übernahme der Erdherrschaft vorbereitet? Wenn nicht, was muss mit dem bisherigen Menschen geschehen, dass er sich die Erde »untertan« machen und so das Wort eines alten Testamentes erfüllen kann? Muss dann der Mensch nicht über sich selbst hinaus gebracht um diesem Auftrag entsprechen zu können? Steht er so, dann kann der recht gedachte »Über-mensch« kein Produkt einer zügellosen und ausgearteten und ins Leere wegsturmenden Phantasie sein. Seine Art lässt sich jedoch ebensowenig historisch durch eine Analyse des modernen Zeitalters auffinden. Wir dürfen darum die Wesensgestalt des Übermenschen niemals in jenen Figuren suchen, die als Hauptfunktionäre eines vordergründigen und missdeuteten Willens zur Macht in die Spitzen seiner verschiedenen Organisationsformen geschoben werden. Eines freilich sollten wir bald merken: dieses Denken, das auf die Gestalt eines Lehrers zudenkt, der den Über-menschen lehrt, geht uns, geht Europa, geht die ganze Erde an, nicht nur heute noch, sondern erst morgen. Das ist so, ganz unabhängig davon, ob wir dieses Denken bejahen oder bekämpfen, ob man es übergeht oder in falschen Tönen nachmacht. Jedes wesentliche Denken geht unantastbar durch alle Anhängerschaft und Gegnerschaft hindurch.
So gilt es denn, dass wir erst lernen, von dem Lehrer zu lernen, und sei es auch nur dies, über ihn hinauszufragen. Nur so erfahren wir eines Tages, wer Nietzsches Zarathustra ist, oder wir erfahren es nie.
Zu bedenken bleibt allerdings, ob das Hinausfragen über Nietzsches Denken eine Fortsetzung desselben sein kann oder ein Schritt zurück werden muss.
Zu bedenken bleibt vordem, ob dieses »Zurück« nur eine historisch feststellbare Vergangenheit meint, die man erneuern möchte (z. B. die Welt Goethes), oder ob das »Zurück« in ein Gewesen weist, dessen Anfang immer noch auf ein Andenken wartet, um ein Beginn zu werden, den die Frühe aufgehen lässt.
Doch jetzt beschränken wir uns darauf, Weniges und Vorläufiges über Zarathustra kennen zu lernen. Sachgemäss geschieht dies am besten so, dass wir versuchen, die ersten Schritte des Lehrers, der er ist, mitzugehen. Er lehrt, indem er zeigt. Er blickt in das Wesen des Über-menschen voraus und bringt es in eine sichtbare Gestalt. Zarathustra ist nur der Lehrer, nicht schon der Über-mensch selbst. Und wiederum ist Nietzsche nicht Zarathustra, sondern der Fragende, der Zarathustras Wesen zu erdenken versucht.
Der Übermensch geht über die Art des bisherigen und heutigen Menschen hinaus und ist so ein Übergang, eine Brücke. Damit wir lernend dem Lehrer, der den Übermenschen lehrt, folgen können, müssen wir, um bei dem Bild zu bleiben, auf die Brücke gelangen. Den Übergang denken wir einigermassen vollständig, wenn wir dreierlei beachten:
1 Das, von wo der Hinübergehende weggeht.
2 Den Übergang selbst.
3 Das, wohin der Übergehende hinübergeht.
Dies zuletzt Genannte müssen wir, muss vor allem der Hinübergehende, muss vordem der Lehrer, der ihn zeigen soll, im Blick haben. Fehlt der Vorblick in das Wohin dann bleibt das Hinübergehen ohne Steuer und das, von wo weg der Hinübergehende sich lösen muss, im Unbestimmten. Doch andererseits zeigt sich das; wohin der Hinübergehende gerufen ist, erst im vollen Licht wenn er dorthin übergegangen ist. Für den Hinübergehenden und vollends für den der den Übergang als Lehrer zeigen soll, für Zarathustra selbst, bleibt das Wohin stets in einer Ferne. Das Ferne bleibt. Insofern es bleibt, bleibt es in einer Nähe in jener nämlich die das Ferne und als das Ferne bewahrt indem es an das Ferne und zu ihn hin denkt. Die andenkende Nähe zum Fernen ist das, was unsere Sprache die Sehnsucht nennt. Irrigerweise bringen wir die Sucht mit »suchen« und »getriebensein« zusammen. Aber das alte Wort »Sucht« (Gelbsucht, Schwindsucht) bedeutet: Krankheit, Leiden, Schmerz.
Die Sehnsucht ist der Schmerz der Nähe des Fernen. Wohin der Hinübergehende geht, dem gehört seine Sehnsucht. Der Hinübergehende und schon der, der ihn zeigt, der Lehrer, ist, wie wir schon hörten, unterwegs zur Heimkehr in sein eigenstes Wesen. Er ist der Genesende. Im dritten Teil von »Also sprach Zarathustra« folgt unmittelbar auf das Stück, das überschrieben ist »Der Genesende«, jenes Stück, das den Titel trägt: »Von der grossen Sehnsucht«. Mit diesem Stück, dem drittletzten des III. Teils, erreicht das ganze Werk »Also sprach Zarathustra« seine Gipfelhöhe. In einer Nachlassaufzeichnung (XIV, 285) vermerkt Nietzsche:
»Ein göttliches Leiden ist der Inhalt des III. Zarathustra.«
In dem Stück »Vonder groBen Sehnsucht« spricht Zarathustra mit seiner Seele. Nach der Lehre Platons, die für die abendländische Metaphysik massgebend wurde, beruht im Selbstgespräch der Seele mit sich selbst das Wesen des Denkens. Es ist der λόγοϛ ὃν αὐτὴ πρ αὐτὴν ἡ ψυχὴ διεξέρχεται περι ὦν ἂν σκοπῇ: das sagende Sichsammeln, das die Seele selbst auf dem Weg zu sich selbst durchgeht, im Umkreis dessen, was je sie erblickt (Theaetet 189 e; vgl. Sophistes 263 e).
Zarathustra denkt im Gespräch mit seiner Seele seinen »abgründlichsten Gedanken« (Der Genesende, n. 1; vgl. III. Vom Gesicht und Rätsel, n. 2). Das Stück »Von der grossen Sehnsucht« beginnt Zarathustra mit den Worten:
»Oh meine Seele, ich lehrte dich >Heute< sagen wie >Einst< und >Ehemals< und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen.«
Die drei Worte »Heute«, »Ehemals«, »Einst« sind gross geschrieben und stehen in Anführungszeichen. Sie nennen die Grundzüge der Zeit. Die Art, wie Zarathustra sie ausspricht, deutet auf jenes, was Zarathustra selber sich im Grunde seines Wesens fortan sagen muss. Und was ist dies? Dass »Einst« und »Ehemals«, Zukunft und Vergangenheit, wie das »Heute« sind. Das Heute aber ist wie das Vergangene und das Kommende. Alle drei Phasen der Zeit rücken zum Gleichen als das Gleiche in eine einzige Gegenwart zusammen, in ein ständiges Jetzt. Die Metaphysik nennt das stete Jetzt: die Ewigkeit. Auch Nietzsche denkt die drei Phasen der Zeit aus der Ewigkeit als stetem Jetzt. Aber die Stete beruht für ihn nicht in einem Stehen, sondern in einem Wiederkehren des Gleichen. Zarathustra ist, wenn er seine Seele jenes Sagen lehrt, der Lehrer der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Sie ist die unerschöpfliche Fülle des freudigschmerzlichen Lebens. Darauf geht »die grosse Sehnsucht« des Lehrers der ewigen Wiederkunft des Gleichen.
Darum heisst »die grosse Sehnsucht« im selben Stück auch »die Sehnsucht der Über-Fülle«.
»Die grosse Sehnsucht« lebt am meisten aus dem wort aus sie den einzigen Trost, d. h. die Zuversicht schöpft. An die Stelle des älteren Wortes »Trost« (dazu: trauen, zutrauen) ist in unserer Sprache das Wort »Hoffnung« getreten. »Die grosse Sehnsucht« stimmt und bestimmt den von ihr beseelten Zarathustra in seine »grösste Hoffnung«.
Was aber berechtigt und führt ihn zu dieser?
Welches ist die Brücke, die ihn hinübergehen lässt zum Übermenschen und ihn im Hinübergehen weggehen lässt vom bisherigen Menschen, so dass er sich von ihm lösen kann? .
Es liegt im eigentümlichen Bau des Werkes »Also sprach Zarathustra« das den Übergang des Hinübergehenden zeigen soll, dass die Antwort auf die soeben gestellte Frage im vorbereitenden II. Teil des Werkes gegeben wird. Hier lässt Nietzsche in dem Stück »Von den Taranteln « Zarathustra sagen:
»Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.«
Wie seltsam und wie befremdlich für die gängige Meinung, die man sich über die Philosophie Nietzsches zurecht gemacht hat. Gilt Nietzsche nicht als der Antreiber zum Willen zur Macht, zu Gewaltpolitik und Krieg, zur Raserei der »blonden Bestie«?
Die Worte »dass der Mensch erlöst werde·von der Rache« sind im Text sogar gesperrt gedruckt. Nietzsches Denken denkt auf die Erlösung vom Geist der Rache. Sein Denken möchte einem Geist dienen, der als Freiheit von der Rachsucht jeder blossen Verbrüderung voraufgeht, aber auch allem Nur-bestrafen-wollen, einem Geist, der vor aller Friedensbemühung und vor jedem Betreiben des Krieges liegt, ausserhalb eines Geistes, der die Pax, den Frieden, durch Pakte begründen und sichern will. Der Raum dieser Freiheit von der Rache liegt in gleicher Weise ausserhalb von Pazifismus und Gewaltpolitik und berechnender Neutralität. Er liegt ebenso ausserhalb eines schwächlichen Gleitenlassens der Dinge und des Sichdrückens um das Opfer, wie ausserhalb der blinden Zugriffe und des Handelns um jeden Preis.
Dem Geist der Freiheit vonder Rache gehört Nietzsches angebliche Freigeisterei.
»Dass der Mensch erlöst werde vonder Rache« – Wenn wir auch nur im ungefähren diesen Geist der Freiheit als den Grundzug im Denken Nietzsches beachten, muss das bisher und immer noch umlauf ende Bild von Nietzsche in sich zerfallen.
»Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung« sagt Nietzsche. Er sagt damit zugleich, in der Sprache des vorbereitenden Verbergens, wohin seine »grosse Sehnsucht« geht.
Doch was versteht Nietzsche hier unter Rache? Worin besteht nach ihm die Erlösung vonder Rache?
Wir begnügen uns damit, einiges Licht in diese zwei Fragen zu bringen. Dieses Licht lässt uns dann vielleicht deutlicher die Brücke sehen, die für ein solches Denken vom bisherigen Menschen zum Übermenschen hinüberführen soll. Mit dem Übergang kommt Jenes zum Vorschein, wohin der Übergehende geht. So kann uns dann eher einleuchten, inwiefern Zarathustra als der Fürsprecher des Lebens, des Leidens, des Kreises der Lehrer ist, der zugleich die ewige Wiederkunft des Gleichen und den Übermenschen lehrt.
Warum hängt dann aber so Entscheidendes an der Erlösung von der Rache? Wo haust ihr Geist? Nietzsche antwortet uns im drittletzten Stück des zweiten Teiles von »Also sprach Zarathustra«. Es ist überschrieben: »Von der Erlösung«. Hier heisst es:
»Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.«
Durch diesen Satz wird die Rache im vorhinein auf das ganze bisherige Nachdenken der Menschen bezogen. Das hier genannte Nachdenken meint nicht irgend ein Überlegen, sondern jenes Denken, worin das Verhältnis des Menschen zu dem beruht und schwingt, was ist, zum Seienden. Insofern der Mensch sich zum Seienden verhält, stelt er das Seiende hinsichtlich dessen vor, dass es ist, was es und wie es ist, wie es sein möchte und sein soll, kurz gesagt: das Seiende hinsichtlich seines Seins. Dieses Vor-stellen ist das Denken.
Nach dem Satz Nietzsches wird dieses Vorstellen bisher durch den Geist der Rache bestimmt. Die Menschen halten ihr so bestimmtes Verhältnis zu dem, was ist, für das Beste.
Wie immer auch der Mensch das Seiende als solches vorstellen mag, er stellt es im Hinblick auf dessen Sein vor. Durch diesen Hinblick geht er über das Seiende immer schon hinaus und hinüber zum Sein. Hinüber heisst griechisch μετά. Darum ist jedes Verhältnis des Menschen zum Seienden als solchen in sich metaphysisch. Wenn Nietzsche die Rache als den Geist versteht, der den Bezug des Menschen zum Seienden durchstimmt und bestimmt, dann denkt er die Rache im vorhinein metaphysisch.
Die Rache ist hier kein blosses Thema der Moral, und die Erlösung von der Rache keine Aufgabe der moralischen Erziehung. Ebensowenig bleibt die Rache und die Rachsucht ein Gegenstand der Psychologie. Wesen und Tragweite der Rache sieht Nietzsche metaphysisch. Doch was heisst überhaupt Rache?
Wenn wir uns mit dem nötigen Weitblick zunächst an die Wortbedeutung halten, können wir daraus einen Wink mitnehmen. Rache, rächen, wreken, urgere heisst: stossen, treiben, vor sich hertreiben, verfolgen, nachstellen. In welchem Sinne ist die Rache ein Nachstellen? Sie sucht doch nicht bloss etwas zu erjagen, es einzufangen, in Besitz zu nehmen. Sie sucht das, dem sie nachstellt, auch nicht bloss zu erlegen. Das rächende Nachstellen widersetzt sich im voraus dem, woran es sich rächt. Es widersetzt sich ihm in der Weise, dass es herabsetzt, um dem Herabgesetzten gegenüber sich selbst in die Überlegenheit zu stellen und so die eigene, für einzig massgebende gehaltene Geltung wiederherzustellen. Denn die Rachsucht wird vom Gefühl des Besiegt- und Geschädigtseins umgetrieben. In den Jahren, da Nietzsche sein Werk »Also sprach Zarathustra« schuf schrieb er, die Bemerkung:
»Ich empfehle allen Märtyrern zu überlegen, ob nicht die Rachsucht sie zum Äussersten trieb.« (XII3, S. 298).
Was ist Rache? Wir können jetzt vorläufig sagen: Rache ist das widersetzliche, herabsetzende Nachstellen. Und dieses Nachstellen soll alles bisherige Nachdenken, das bisherige Vorstellen des Seienden hinsichtlich seines Seins tragen und durchziehen? Wenn dem Geist der Rache die genannte metaphysische Tragweite zukommt, muss sie sich aus der Verfassung der Metaphysik ersehen lassen. Damit uns diese Sicht einigermassen gelingt, achten wir darauf, in welcher Wesensprägung das Sein des Seienden innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik erscheint. Diese Wesensprägung des Seins kommt in einer klassischen Form durch wenige Sätze zur Sprache, die Schelling in seinen »Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände« 1809 niedergelegt hat. Die drei Sätze lauten: ·
» – Es giebt in der letzten und höchsten lnstanz gar kein andres Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn und auf dieses (das Wollen) allein passen alle Prädikate desselben (des Urseyns): Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, höchsten Ausdruck zu finden« (F. W. J. Schellings philosophische Schriften, 1. Bd., Landshut 1809 S. 419).
Schelling findet die Prädikate, die das Denken der Metaphysik von altersher dem Sein zuspricht nach ihrer letzten und höchsten und somit vollendeten Gestalt im Wollen.
Der Wille dieses Wollens ist hier jedoch nicht als Vermögen der menschlichen Seele gemeint. Das Wort »Wollen« nennt hier das Sein des Seienden im Ganzen. Dieses ist Wille. Das klingt uns befremdlich und ist es auch, solange uns die tragenden Gedanken der abendländischen Metaphysik fremd bleiben. Dies bleiben sie, solange wir diese Gedanken nicht denken, sondern nur immer über sie berichten. Man kann z. B. die Aussagen von Leibniz über das Sein des Seienden historisch genau feststellen, ohne das Geringste von dem zu denken, was er dachte, als er das Sein des Seienden von der Monade aus als die Einheit von perceptio und appetitus, als Einheit von Vorstellen und Anstreben, d. h. als Wille bestimmte. Was Leibniz denkt, kommt durch Kant und Fichte als der Vernunftwille zur Sprache, dem Hegel und Schelling, jeder auf seine Weise, nachdenken. Das Selbe meint Schopenhauer, wenn er seinem Hauptwerk den Titel gibt: »Die Welt (nicht der Mensch) als Wille und Vorstellung.« Das Selbe denkt Nietzsche, wenn er das Ursein des Seienden als Wille zur Macht erkennt.
Dass hier überall das Sein des Seienden durchgängig als Wille erscheint, beruht nicht auf Ansichten, die sich einige Philosophen über das Seiende zurechtlegen. Was dieses Erscheinen des Seins als Wille heisst, wird keine Gelehrsamkeit je ausfindig machen; es lässt sich nur im Denken erfragen, als zu-Denkendes in seiner Fragwürdigkeit würdigen und so als Gedachtes im Gedächtnis bewahren.
Das Sein des Seienden erscheint für die neuzeitliche Metaphysik und durch sie eigens ausgesprochen als Wille. Der Mensch aber ist Mensch, insofern er sich denkend zum Seienden verhält und so im Sein gehalten wird. Das Denken muss mit in seinem eigenen Wesen dem entsprechen, wozu es sich verhält, zum Sein des Seienden als Wille.
Nun ist nach Nietzsches Wort das bisherige Denken durch den Geist der Rache bestimmt. Wie denkt also Nietzsche das Wesen der Rache, gesetzt, dass er es metaphysisch denkt?
lm zweiten Teil von »Also sprach Zarathustra«, in dem schon genannten Stück »Von der Erlösurig«, lässt Nietzsche seinen Zarathustra sagen:
»Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr >Es war<.«
Dass eine Wesensbestimmung der Rache auf das Widerwärtige und Widersetzliche in ihr und somit auf einen Widerwillen abhebt, entspricht dem eigentümlichen Nachstellen, als welches wir die Rache kennzeichneten. Aber Nietzsche sagt nicht bloss: Rache ist Widerwille. Das gilt auch vom Hass. Nietzsche sagt: Rache ist des Willens Widerwille. »Wille« aber nennt das Sein des Seienden im Ganzen, nicht nur das menschliche Wollen. Durch die Kennzeichnung der Rache als »des Willens Widerwille« bleibt ihr widersetzliches Nachstellen zum voraus innerhalb des Bezugs zum Sein des Seienden. Dass es sich so verhält, wird klar, wenn wir darauf achten, wogegen der Widerwille der Rache angeht. Rache ist »des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr >Es war«<.
Beim ersten, auch beim zweiten und noch beim dritten Lesen dieser Wesensbestimmung der Rache wird man die betonte Beziehung der Rache auf »die Zeit« für überraschend, für unverständlich und zuletzt für willkürlich halten. Man muss dies sogar, wenn man nicht weiter bedenkt was hier der Name »Zeit« meint.
Nietzsche sagt: Rache ist »des Willens Widerwille gegen die Zeit … « Es heisst nicht: gegen etwas Zeitliches. Es heisst auch nicht: gegen einen besonderen Charakter der Zeit. Es heisst schlechthin: »Widerwille ge =gen die Zeit … « Allerdings folgen sogleich die Worte nach: »gegen die Zeit und ihr >Es war<«. Dies sagt aber doch: Rache ist der Widerwille gegen das »Es war« an der Zeit. Man wird mit Recht darauf hinweisen, dass zur Zeit nicht nur das »es war« sondern gleichwesentlich das »es wird sein« und das »es ist jetzt« gehören; denn Zeit ist nicht bloss durch Vergangenheit, sondern auch durch Zukunft und Gegenwart bestimmt. Wenn daher Nietzsche in betonter Weise auf das »Es war« an der Zeit abhebt, dann meint er doch offenkundig bei seiner Kennzeichnung des Wesens der Rache keineswegs »die« Zeit als solche, sondern die Zeit in einer besonderen Hinsicht. Doch wie steht es mit »der« Zeit? Es steht so mit ihr, dass sie geht. Und sie geht, indem sie vergeht. Das Kommende der Zeit kommt nie, um zu bleiben, sondern um zu gehen. Wohin? Ins Vergehen. Wenn ein Mensch gestorben ist, sagen wir, er habe das Zeitliche gesegnet. Das Zeitliche gilt als das Vergängliche.
Nietzsche bestimmt die Rache als »des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr >Es war<«. Diese nachgetragene Bestimmung hebt nicht einen vereinzelten Charakter der Zeit unter Vernachlässigung der beiden anderen einseitig heraus, sondern sie kennzeichnet den Grundzug der Zeit in ihrem ganzen und eigentlichen Zeitwesen. Mit dem »und« in der Wendung »die Zeit und ihr >Es war<« leitet Nietzsche nicht zu einer blossen Anfügung eines besonderen Zeitcharakters über. Das »und« bedeutet hier so viel wie: und das heisst. Rache ist des Willens Widerwille gegen die Zeit und das heisst: gegen das Vergehen und sein Vergängliches. Dieses ist für den Willen solches, wogegen er nichts mehr ausrichten kann, woran sein Wollen sich ständig stösst. Die Zeit und ihr »Es war« ist der Stein des Anstosses, den der Wille nicht wälzen kann. Die Zeit als Vergehen ist das Widrige, an dem der Wille leidet. Als so leidender Wille wird er selbst zum Leiden am Vergehen,
Welches Leiden dann sein eigenes Vergehen will und damit will, dass überhaupt alles wert sei, zu vergehen. Der Widerwille gegen die Zeit setzt das Vergängliche herab. Das Irdische, die Erde und alles, was zu ihr gehört, ist das, was eigentlich nicht sein sollte und im Grunde auch kein wahres Sein hat. Schon Platon nannte es das μὴ ὄν, das Nicht-Seiende.
Nach den Sätzen Schellings, die nur die Leitvorstellung aller Metaphysik aussprechen, sind »Unabhängigkeit von der Zeit, Ewigkeit« Urprädikate des Seins.
Der tiefste Widerwille gegen die Zeit besteht aber nicht in der blossen Herabsetzung des Irdischen. Die tiefste Rache besteht für Nietzsche in jenem Nachdenken, das überzeitliche Ideale als die absoluten ansetzt, an denen gemessen das Zeitliche sich selber zum eigentlich Nicht-Seienden herabsetzen muss.
Wie aber soll der Mensch die Erdherrschaft antreten können, wie kann er die Erde als Erde in seine Obhut nehmen, wenn er und solange er das Irdische herabsetzt, insofern der Geist der Rache sein Nachdenken bestimmt? Gilt es, die Erde als Erde zu retten, dann muss zuvor der Geist der Rache verschwinden. Darum ist für Zarathustra die Erlösung von der Rache die Brücke zur höchsten Hoffnung.
Doch worin besteht diese Erlösung vom Widerwillen gegen das Vergehen? Besteht sie in einer Befreiung vom Willen überhaupt? lm Sinne Schopenhauers und des Buddhismus? Insofern nach der Lehre der neuzeitlichen Metaphysik das Sein des Seienden Wille ist, käme die Erlösung vom Willen einer Erlösung vom Sein und somit einem Fall in das leere Nichts gleich. Die Erlösung von der Rache ist für Nietzsche zwar die Erlösung vom Widrigen, vom Widersetzlichen und Herabsetzenden im Willen, aber keineswegs die Herauslösung aus allem Wollen. Die Erlösung löst den Widerwillen von seinem Nein und macht ihn frei für in Ja. Was bejaht dieses Ja? Genau das, was der Widerwillen des Rachegeistes verneint: die Zeit, das Vergehen.
Dieses Ja zur Zeit ist der Wille, dass das Vergehen bleibe und nicht in das Nichtige herabgesetzt werde. Aber wie kann das Vergehen bleiben? Nur so, dass es als Vergehen nicht stets nur geht, sondern immer kommt. Nur so, dass das Vergehen und sein Vergangenes in seinem Kommen als das Gleiche wiederkehrt. Diese Wiederkehr selbst ist jedoch nur dann eine bleibende, wenn sie eine ewige ist. Das Prädikat »Ewigkeit« gehört nach der Lehre der Metaphysik zum Sein des Seienden.
Die Erlösung von der Rache ist der Übergang vom Widerwillen gegen die Zeit zum Willen, der das Seiende in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorstellt, indem der Wille zum Fürsprecher des Kreises wird.
Anders gewendet: erst wenn das Sein des Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen sich dem Menschen vorstellt, kann der Mensch über die Brücke hinübergehen und, erlöst vom Geist der Rache, der Hinübergehende, der Übermensch sein.
Zarathustra ist der Lehrer, der den Übermenschen lehrt. Aber er lehrt diese Lehre einzig deshalb, weil er der Lehrer der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist. Dieser Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist der dem Range nach erste, der »abgründlichste« Gedanke. Deshalb wird er vom Lehrer zuletzt und auch dann immer nur zögernd ausgesprochen.
Wer ist Nietzsches Zarathustra? Er ist der Lehrer, dessen Lehre das bisherige Nachdenken vom Geist der Rache in das Ja zur ewigen Wiederkehr des Gleichen befreien möchte.
Zarathustra lehrt als Lehrer der ewigen Wiederkehr den Übermenschen. Der Kehrreim dieser Lehre lautet nach einer Nachlassnotiz (XIV 276): »Refrain: >Nur die Liebe soll richten< (die schaffende Liebe, die sich selber uber ihren Werken vergisst).«
Zarathustra lehrt als Lehrer der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen nicht zweierlei. Was er lehrt, gehört in sich zusammen weil eines das andere in die Entsprechung fordert. Diese Entsprechung, das, worin sie west und wie sie sich entzieht, ist es, was die Gestalt Zarathustras n sich verbirgt und doch zugleich zeigt und so allererst denkwürdig werden lässt.
Allein, der Lehrer weiss, dass, was er lehrt, ein Gesicht bleibt und ein Rätsel. In diesem nachdenklichen Wissen harrt er aus.
Wir Heutigen sind durch die eigentümliche Vorherrschaft der neuzeitlichen Wissenschaften in den seltsamen Irrtum verstrickt, der meint, das Wissen lasse sich aus der Wissenschaft gewinnen und das Denken unterstehe der Gerichtsbarkeit der Wissenschaft. Aber das Einzige, was jeweils ein Denker zu sagen vermag, lässt sich logisch oder empirisch weder beweisen noch widerlegen. Es ist auch nicht die Sache eines Glaubens. Es lässt sich nur fragenddenkend zu Gesicht bringen. Das Gesichtete erscheint dabei stets als das Fragwürdige.
Damit wir das Gesicht des Rätsels erblicken und im Bliek behalten, das sich in der Gestalt Zarathustras zeigt, achten wir erneut auf den Anblick seiner Tiere, der ihm zu Beginn seiner Wanderschaft erscheint:
» … da bliek te er fragend in die Höhe – denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.
>Es sind meine Tiere! < sagte Zarathustra und freute sich von Herzen.«
So lautet den die früher mit Absicht nur teilweise angeführte Stelle aus dem Stück »Der Genesende« n. 1:
»Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises – dich rufe ich, meinen abgründlichsten Gedanken! «
Mit dem selben Wort benennt Zarathustra den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen in dem Stück des III. Teiles »Vom Gesicht und Rätsel « n. 2. Dort versucht Zarathustra zum ersten Male in der Auseinandersetzung mit dem Zwerg das Rätselvolle dessen zu denken, was er sieht als das, dem seine Sehnsucht gilt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen bleibt für Zarathustra Gesicht zwar, aber Rätsel. Sie lässt sich logisch oder empirisch weder beweisen noch widerlegen. Im Grunde gilt dies von jedem wesentlichen Gedanken jedes Denkers: Gesichtetes, aber Rätsel frag-würdig.
Wer ist Nietzsches Zarathustra? Wir können jetzt formelhaft antworten: Zarathustra ist der Lehrer der ewigen Wiederkunft des Gleichen und der Lehrer des Übermenschen. Aber jetzt sehen wir, sehen vielleicht auch wir über die blosse Formel hinaus deutlicher: Zarathustra ist nicht ein Lehrer, der zweierlei und verschiedenes lehrt. Zarathustra lehrt den Übermenschen, weil er der Lehrer der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist. Aber auch umgekehrt: Zarathustra lehrt die ewige Wiederkunft des Gleichen, weil er der Lehrer des Übermenschen ist. Beide Lehren gehören in einem Kreis zusammen. Durch ihr Kreisen entspricht die Lehre dem, was ist, dem Kreis, der als ewige Wiederkehr des Gleichen das Sein des Seienden, das heisst das Bleibende im Werden ausmacht.
In dieses Kreisen gelangt die Lehre und ihr Denken, wenn sie über die Brücke geht, die heisst: Erlösung vom Geist der Rache. Dadurch soll das bisherige Denken überwunden werden.
Aus der Zeit unmittelbar nach der Vollendung des Werkes »Also sprach Zarathustra«, aus dem Jahr 1885, stammt eine Aufzeichnung, die als n. 617 in das Buch aufgenommen ist, das man aus dem Nachlass Nietzsches zusammengestoppelt und unter dem Titel »Der Wille zur Macht« veröffentlicht hat. Die Aufzeichnung trägt die unterstrichene Überschrift: »Recapitulation«. Nietzsche versammelt hier die Hauptsache seines Denkens aus einer ungewöhnlichen Hellsicht in wenige Sätze zusammen. In einer eingeklammerten Nebenbemerkung des Textes wird eigens Zarathustra genannt. Die »Recapitulation« beginnt mit dem Satz: » Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.«
Der höchste Wille zur Macht, d. h. das Lebendigste alles Lebens ist es, das Vergehen als ständiges Werden in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorzustellen und es so ständig und beständig zu machen. Dieses Vorstellen ist ein Denken, das, wie Nietzsche in betonter Weise vermerkt, dem Seienden den Charakter seines Seins »aufprägt«. Dieses Denken nimmt das Werden, zu dem ein ständiges Sichstossen, das Leiden, gehört, in seine Obhut, unter seine Protektion.
Ist durch dieses Denken das bisherige Nachdenken, ist der Geist der Rache überwunden? Oder verbirgt sich in diesem Aufprägen, das alles Werden in die Obhut der ewigen Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das blosse Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache?
Sobald wir diese Frage stellen, macht sich der Anschein breit, als versuchten wir, Nietzsche dasjenige als sein Eigenstes vorzurechnen, was er gerade überwinden will als hegten wir die Meinung, durch eine solche Rechnung sei das Denken dieses Denkers widerlegt.
Die Geschäftigkeit des Widerlegenwollens gelangt aber nie auf den Weg eines Denkers. Sie gehört in jene Kleingeisterei, deren Auslassungen die Öffentlichkeit zu ihrer Unterhaltung bedarf. Überdies hat Nietzsche selbst die Antwort auf unsere Frage längst vorweggenommen. Die Schrift, die dem Buch »Also sprach Zarathustra« unmittelbar voraufgeht, erschien 1882 unter dem Titel »Die fröhliche Wissenschaft«. In ihrem vorletzten Stück n. 341 wird Nietzsches »abgründlichster Gedanke« unter der Überschrift »Das grösste Schwergewicht« zum ersten Male dargelegt. Das ihm folgende Schlussstück n. 342 ist als Beginn der Vorrede wörtlich in das Werk »Also sprach Zarathustra« aufgenommen.
lm Nachlass (WW. Bd. XIV, S. 404 ff.) finden sich Entwürfe zur Vorrede für die Schrift »Die fröhliche Wissenschaft«. Wir lesen da folgendes: »Ein durch Kriege und Siege gekräftigter Geist, dem die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar, zum Bedürfnis geworden ist; eine Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne; eine Art sublimer Bosheit und letzten Muthwillens der Rache, – denn es ist Rache darin, Rache am Leben selbst wenn ein Schwer-Leidender das Leben unter seine Protection nimmt.«
Was bleibt uns anderes, als zu sagen: Zarathustras Lehre bringt nicht die Erlösung von der Rache? Wir sagen es. Allein, wir sagen es keineswegs als vermeintliche Widerlegung der Philosophie Nietzsches. Wir sagen es nicht einmal als Einwand gegen Nietzsches Denken. Aber wir sagen es, um unseren Blick darauf zu wenden dass und inwiefern , auch Nietzsches Denken sich im Geist des bisherigen Nachdenkens bewegt. Ob dieser Geist des bisherigen Denkens überhaupt in seinem massgehenden Wesen getroffen ist, wenn er als Geist der Rache gedeutet wird, lassen wir offen. ln jedem Falle ist das bisherige Denken Metaphysik, und Nietzsches Denken vollzieht vermutlich ihre Vollendung.
Dadurch kommt in Nietzsches Denken etwas zum Vorschein, was dieses Denken selber nicht mehr zu denken vermag. Solches Zurückbleiben hinter dem Gedachten kennzeichnet das Schöpferische eines Denkens. Wo gar ein Denken die Metaphysik zur Vollendung bringt, zeigt es in einem ausnehmenden Sinne auf Ungedachtes, deutlich und verworren zugleich. Aber wo sind die Augen, dies zu sehen?
Das metaphysische Denken beruht auf dem Unterschied zwischen dem, was wahrhaft ist, und dem, was, daran gemessen, das nicht wahrhaft Seiende ausmacht. Für das Wesen der Metaphysik liegt das Entscheidende jedoch keineswegs darin, dass der genannte Unterschied sich als der Gegensatz des Übersinnlichen zum Sinnlichen darstellt, sondern darin, dass jener Unterschied im Sinne einer Zerklüftung das Erste und Tragende bleibt. Sie besteht auch dann fort, wenn die platonische Rangordnung zwischen . dem Übersinnlichen und Sinnlichen umgekehrt und das Sinnliche wesentlicher und weiter in einem Sinne erfahren wird, den Nietzsche mit dem Namen Dionysos benennt. Denn die Überfülle, wonach »die grosse Sehnsucht« Zarathustras geht, ist die unerschöpfliche Beständigkeit des Werdens, als welche der Wille zur Macht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen sich selber will.
Nietzsche hat das wesenhaft Metaphysische seines Denkens auf die äusserste Form des Widerwillens gebracht und zwar mit den letzten Zeilen seiner letzten Schrift »Ecce homo« »Wie man wird, was man ist«. Nietzsche verfasste diese Schrift im Oktober 1888. Sie wurde erst zwanzig Jahre später in einer beschränkten Auflage zum ersten Male veröffentlicht und 1911 in den Bd. XV der Grossoktavausgabe aufgenommen. Die letzten Zeilen von »Ecce homo« lauten:
»-Hat man mich verstanden? –Dionysos gegen den Gekreuzigten … «
Wer ist Nietzsches Zarathustra? Er ist der Fürsprecher des Dionysos. Das will sagen: Zarathustra ist der Lehrer, der in seiner Lehre vom Übermenschen und für diese die ewige Wiederkunft des Gleichen lehrt.
Gibt der Satz die Antwort auf unsere Frage? Nein. Er gibt sie auch dann nicht, wenn wir den Hinweisen folgen, die ihn erläuterten, um den Weg Zarathustras, wenn auch nur bei seinem ersten Schritt über die Brücke, nachzugehen. Der Satz, der wie eine Antwort aussieht, möchte uns indessen aufmerken lassen und uns aufmerksamer in die Titelfrage zurückbringen.
Wer ist Nietzsches Zarathustra? Dies frägt jetzt: Wer ist dieser Lehrer? Wer ist diese Gestalt, die im Stadium der Vollendung der Metaphysik innerhalb dieser erscheint? Nirgends sonst in der Geschichte der abendländischen Metaphysik wird die Wesensgestalt ihres jeweiligen Denkers in dieser Weise eigens gedichtet oder, sagen wir gemässer und wörtlich: er-dacht; nirgends sonst ausser am Beginn des abendländischen Denkens bei Parmenides, und hier nur in verhüllten Umrissen.
Wesentlich an der Gestalt Zarathustras bleibt, dass der Lehrer etwas Zwiefaches lehrt, was in sich zusammengehört: ewige Wiederkunft und Übermensch. Zarathustra ist selbst in gewisser Weise dieses Zusammengehören. Nach dieser Hinsicht bleibt auch er ein Rätsel, das wir noch kaum zu Gesicht bekommen haben.
»Ewige Wiederkunft des Gleichen« ist der Name für das Sein des Seienden. »Übermensch« ist der Name für das Menschenwesen, das diesem Sein entspricht.
Von woher gehören Sein und Menschenwesen zusammen? Wie gehören sie zusammen, wenn das Sein weder ein Gemächte des Menschen, noch der Mensch nur ein Sonderfall innerhalb des Seienden ist?
Lässt sich die Zusammengehörigkeit von Sein und Menschenwesen überhaupt erörtern, solange das Denken am bisherigen Begriff des Menschen hängenbleibt? Darnach ist er das animal rationale, das vernünftige Tier. Ist es Zufall oder nur eine poetische Ausschmückung, dass die beiden Tiere, Adler und Schlange, bei Zarathustra sind, dass sie . ihm sagen, wer er werden muss, um der zu sein, der er ist? In der Gestalt der beiden Tiere soll für den Denkenden das Beisammen von Stolz und Klugheit zum Vorschein kommen. Doch man muss wissen, wie Nietzsche über beides denkt. In Aufzeichnungen aus der Zeit der Niederschrift von »Also sprach Zarathustra« heisst es:
»Es scheint mir, dass Bescheidenheit und Stolz eng zu einander gehören … Das Gemeinsame ist: der kalte, sichere Blick der Schätzung in beiden Fällen. « (WW XIV, 99)
An einer anderen Stelle heisst es:
»Man redet so dumm vom Stolze – und das Christentum hat ihn gar als sündlich empfinden machen! Die Sache ist: wer Grosses von sich verlangt und erlangt, der muss sich von Denen sehr fern fühlen, welche dies nicht thun, – diese Distanz wird von diesen Andern gedeutet als > Meinung über sich<; aber Jener kennt sie (die Distanz) nur als fortwährende Arbeit, Krieg, Sieg, bei Tag und Nacht: von dem Allen wissen die Anderen Nichts« (a. a. 0. 101).
Der Adler: das stolzeste : Tier; die Schlange: das klügste Tier. Und beide eingefugt in den Kreis, darin sie schwingen, in den Ring der ihr Wesen umringt; und Kreis und Ring noch einmal ineinandergefügt.
Das Rätsel, wer Zarathustra als der Lehrer der ewigen Wiederkunft und des Übermenschen sei, wird uns zum Gesicht im Anblick der beiden Tiere. In diesem Anblick können wir unmittelbar und leichter festhalten, was die Darlegung als das Fragwürdige zu zeigen versuchte: den Bezug des Seins zum Lebewesen Mensch.
»Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.
>Es sind meine Tiere! < sagte Zarathustra und freute sich von Herzen.«
ANMERKUNG ÜBER DIE EWIGE
WIEDERKEHR DES GLEICHEN
Nietzsche selber wusste, dass sein »abgründlichster Gedanke« ein Rätsel bleibt. Um so weniger dürfen wir meinen, das Rätsel lösen zu können. Das Dunkle dieses letzten Gedankens der abendländischen Metaphysik darf uns nicht dazu verleiten, ihm durch Ausflüchte auszuweichen.
Der Ausflüchte gibt es im Grunde nur zwei.
Entweder sagt man, dieser Gedanke Nietzsches sei eine Art »Mystik« und gehöre nicht vor das Denken.
Oder man sagt: dieser Gedanke ist schon uralt. Er läuft auf die längst bekannte zyklische Vorstellung vom Weltgeschehen hinaus. Sie lässt sich innerhalb der abendländischen Philosophie zuerst bei Heraklit nachweisen.
Die zweite Auskunft sagt, wie jede ihrer Art, überhaupt nichts. Denn was soll uns dies helfen, wenn man über einen Gedanken feststellt, dass er sich z. B. »schon« bei Leibniz oder sogar »schon« bei Platon finde? Was soll diese Angabe, wenn sie das von Leibniz und von Platon Gedachte in der selben Dunkelheit liegen lässt wie den Gedanken, den man durch solche historische Verweisungen für geklärt hält?
Was jedoch die erste Ausflucht angeht, nach der Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine phantastische Mystik sei, so dürfte wohl das jetzige Zeitalter uns eines anderen belehren; gesetzt freilich, dass es dem Denken bestimmt ist, das Wesen der modernen Technik ans Licht zu bringen.
Was ist das Wesen der modernen Kraftmaschine anderes als eine Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen? Aber das Wesen dieser Maschine ist weder etwas Maschinelles noch gar etwas Mechanisches. Ebensowenig lässt sich Nietzsches Gedanke vonder ewigen Wiederkehr des Gleichen in einem mechanischen Sinne auslegen.
Dass Nietzsche seinen abgründlichsten Gedanken vom Dionysischen her deutete und erfährt, spricht nur dafür, dass er ihn noch metaphysisch und nur so denken musste. Es spricht aber nicht dagegen, dass dieser abgründlichste Gedanke etwas Ungedachtes verbirgt, was sich dem metaphysischen Denken zugleich verschliesst. (Vgl. die Vorlesung »Was heisst Denken?« W. S. 51 / 52, 1954 als Buch erschienen im Verlag M. Niemeyer, Tübingen.)
Heidegger, Martin, Bauen Wohnen Denken, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2022, (Klett-Cotta), pag. 119-146
