Fragmenten uit Die Stadt hinter dem Strom van Hermann Kasack, een roman over een man die in een stad terecht komt vlak na de Tweede Wereldoorlog (1946) waarin hij wordt aangesteld om gebeurtenissen vast te leggen. Een leven ná de dood waar de doden voorbij trekken…

Kasack, Hermann, die Stadt hinter dem Strom. Roman, Frankfurt am Main 1983 (Suhrkamp)
Es schien sich bei den Teilnehmern um eine geheime Sekte zu handeln, denn alle trugen als Zeichen der Zugehörigkeit grünlasierte Gesichtsmasken, deren starrer Ausdruck in der halbhellen Beleuchtung etwas Qualliges annahm. Viele der Männer und Frauen hockten auf Steinfliesen, andere waren so geschwächt, dass sie nicht imstande schienen, sich aufrecht zu halten, und auf allen vieren vorwärts krochen. Die meisten waren unbekleidet, manche hatten einen zerrissenen Fetzen um die Hüften ‘ geschlungen. Das hagere Fleisch, aus dem die Rippen hervorstanden, schimmerte phosphoreszierend. Man hätte meinen können, das mittelalterliche Gemälde eines Jüngsten Gerichts, eines Höllensturzes der Verdammten vor sich zu sehen, eines Brueghel würdig. Aber diese Menschen bewegten sich, bewegten sich lautlos und krallten gierig die Hände, sie rutschten auf den Knien, drängten sich eng Kopf bei Kopf, und aus den Gängen schoben sich immer neue Scharen schlotternd heran. Robert war von zwei Männern zu einem schmalen gemauerten Plateau geführt worden, das wie eine Kanzel den mit vielen Tausenden erfüllten Raum überragte. Zuweilen zog der süssliche Schwaden eines faden Gasgeruchs an ihm vorüber, so dass sich eine zunehmende Betäubung auf seine Sinne legte. Einer der Grünmaskierten hatte von der Kanzel aus zu den übrigen Wesen zu sprechen begonnen, der Schall der Stimme klang ähnlich dem erstickten Gurgeln einer auf- und abschwellenden Orgelpfeife.
Es sei nicht freier Wille gewesen, so meinte der Archivar zu verstehen, der sie hier zu diesem Zusammentreffen vereinigt habe, sondern ein böser Zwang. Jedermann sei aus Heim und Habe gerissen worden, man habe sie schlimmer als Verbrecher eingesperrt, habe sie geschlagen und misshandelt und habe sie schliesslich, alt oder jung, zu Paaren getrieben. Von einem Desinfektionsraum sei gesprochen worden, doch als sich die Türen mit · dem Gummifilz hinter ihnen schlossen, hätten sie plötzlich begriffen, was bevorstehe. Alles habe sich zuletzt so schnell vollzogen, dass sie weder für Wehklage noch für Anklage Luft gehabt hätten. Jetzt aber sammelten sich noch einmal ihre Gedanken, und was ihnen an dieser Stätte sichtbar würde, sei der letzte Augenblick, die Schrecksekunde der Ewigkeit.
Der Sprecher hielt inne. Durch die Katakomben hallte und stöhnte es aus geborstenen Lungen wie, die Litanei eines begleitenden Chores. Bestürzt lauschte der Archivar den Worten des Redenden. Mehr als das eigene Schicksal, fuhr jener-fort, quäle ihn wie die meisten von ihnen das Fragen nach dem Sinn des Ganzen – er finde keine Antwort mehr, Zweifel und Ekel erschütterten ihn stärker von Minute zu Minute, zu welchem Sinn das alles geschehe.
Warum? Warum?« flackerte es im Chor auf, trotzig, bohrend, entsagend.
Oh es den Erdgeist, setzte sich die Stimme wieder durch, nicht einmal reue, um eines Wahnes willen soviel Unheil über ein Volk zu bringen von den Zeiten der Psalmen an bis in die Gegenwart! Aber nicht dieses allein – ob es den Geist der Erde und ihrer Geschöpfe nicht ein einziges Mal wenigstens reue, Menschen und Völker einander in Hass aufzehren zu lassen, die Freiheit zu knechten durch die Barbaren im eigenen Land und soviel begonnenes Leben auf widernatürliche Weise vor der Zeit enden zu lassen – soviel Blühen ohne Frucht zu lassen, soviel Taten ungetan.
Wieder grollte es im Chor auf: “Vor, der Zeit! Vor der Zeit!”
Er frage, rief die Stimme des Grünmaskierten drängender, so dass Robert den Worten kaum zu folgen vermochte, ob denn ihr tausend- und millionenfaches Opfer wieder umsonst sein werde und die Mächtigen der Staaten, die Tyrannen und Raubherren der Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert nichts anderes vorhatten, nichts Besseres zu tun wüssten, als immer um ihrer Macht willen von neuem grausam zu schänden, grausam zu zerstören, grausam zu töten und töten zu lassen. Ein Brodem von ohnmächtigem Zorn schlug aus der Menge von Mund zu Mund und lief ein Raunen, spitze Schreie fuhren von Frauen hoch.
»Soll das Meer des Leides«, so klangen die Worte wie hohles Stampfen durch den Maskentrichter, »das von Tränen aller Zeiten und Zonen voll ist, denn niemals seine Masslosigkeit erschöpfen? Wird die Erde nur deshalb mit hunderttausendfältig vergossenem Blut unschuldiger Menschen gedüngt, um für neues Blutvergiessen reif zu werden? Endet niemals der Fluch? Werden wir in unsern Kindern immer wieder die Opfer sein? Nur wiedergeboren, um das gleiche Los der Verzweiflung zu erdulden, die gleichen Schmerzen und Verfolgungen? Werden von einer Generation zur andern nur unsere Ketten weitergereicht, soll die schöne Erde immer nur ein Schindanger bleiben, auf dem wir und unsersgleichen verrecken müssen wie Aas?«
Eine wallende Bewegung durchpulste die Versammlung, die Glieder verrenkten sich, es knackte im Gebein.
»Nicht vergessen! Nicht vergessen!«
Immer stärker pflanzte sich der Ruf fort. Ein junger Bursche hatte sich zähneknirschend auf die Steinkanzel geschwungen, wo er sich mit schlotternden Gesten vergeblich Gehör zu verschaffen suchte. Er fuhr mit beiden Händen über die graue Haut seines Körpers, wies stumm auf Narben und brandige Schorfe hin. Als hätte es nur dieses Beispiels bedurft, machten viele der Unglücklichen sich auf ihre Wundmale aufmerksam. Robert spürte ein würgendes Brennen im Hals.
Einige der Maskengesichter, die sich jetzt rücksichtslos zur Steinkanzel drängten, nahmen zu Roberts Überraschung eine blutrote Färbung an. Vielleicht rief die düstere Beleuchtung den Wechsel hervor. Aber die Gestalten hoben sich auch sonst von der Mehrzahl der übrigen ab, denn sie waren in schwarze Blusen und schwarze Hosen mit hohen Stulpenstiefeln gekleidet. Mit geringschätzigen Blicken massen sie die Versammlung und stellten sich höhnisch vor dem Archivar und Chronisten auf, wobei jeder seine Hände hinter dem Rücken verbarg, als oh er sich ihrer schämen müsse. Als schliesslich einer von ihnen zu reden begann, überkam die Menge eine Lähmung, die alle Bewegung der Gruppen wie versteinert festhielt. Man hörte’ mühsam unterdrücktes Schnaufen.
»Jawohl«, klang es aus dem Munde der blutroten Maske, »wir haben gepeinigt und gequält. Von Kind an wurden wir geprügelt, wenn wir frech und aufsässig waren, und nun, wo wir selber gross geworden sind, rächen wir die Schläge, die uns die Erwachsenen gaben, die stickige Luft, das Muffige unserer Erziehung. Wir haben den anderen die Freiheit beschnitten, wie man uns die Flügel gestutzt hatte. Jawohl«, gellte die Stimme durch die Katakomben, »wir haben gefoltert und getötet, weil wir Söldner der Macht sind, weil wir eingesetzt wurden und uns einsetzen liessen als Aufpasser und Regler für eine verschworene Idee. Wir empfanden jedermann, der nicht für-unsere Sache war, als Widerspruch unserer selbst, als persönliche Herausforderung. Unser Schädel war gedrillt, jeden Widerstand zu brechen, den der Auflehnung und des Geistes vor allem. Wir haben die Gegner unseres Denkens ins Schleppnetz unseres Handelns genommen. Wer sich uns nicht beugen wollte, den haben wir gebrochen.«
Die Rufe des Abscheus, die sich wie Wellen von Hass zu Beginn der Rede aus der Versammlung gegen die Peiniger erhoben hatten, waren bald verstummt. Der Archivar hatte den Eindruck, als ob sich der Redner weniger an die Menge der Grünmaskierten als vielmehr unmittelbar an ihn, den Vertreter des Archivs, mit seinem Bekenntnis wandte.
Ebenso ein anderer der Schwarzblusen, der von den Vorbildern ihrer Zunft in der Geschichte sprach: von den Christenverfolgungen im alten Rom, den Judenpogromen in den Ländern Europas, von der Inquisition und den Hexenprozessen des Mittelalters, von der Bartholomäusnacht, dem schwarzen Elfenbein der Sklavenmärkte, von den Bürgerkriegen Chinas, den Revolutionstribunalen, der Massenausrottung von Gläubigen und Ungläubigen im Morgenland und Abendland von den grossen Leichenzeiten im Leben der Menschheit, die sich, wie er ausführte, stets im Dienste der herrschenden Macht vollzogen hätten und vollzögen, Scheiterhaufen, Hekatomben, Massakers im Namen einer Idee und als Apotheosen des Glaubens an die Macht des Staates oder der Kirche oder an die beiden übergeordnete Macht des Geldes.
Während die Menge unten stumpf und reglos verharrte, schob sich eine düstere Frau an den Archivar, die in siedender Verzweiflung seine Knie umklammerte. Den Kopf zurückgebogen, so dass das Haar in ungezügelten Strähnen nach hinten flog, hob sich ein Gesicht ohne Alter Robert entgegen, das mit leerem, völlig zerstörtem Ausdruck zu ihm auf schaute. So dicht legte sich die grünliche Maske an die Haut, dass der Archivar das nackte Antlitz der Frau vor sich zu sehen meinte. Er entdeckte plötzlich, dass weder sie noch die übrigen Personen künstliche Larven trugen und dass lediglich die ungewöhnliche Farbe und der allen gemeinsame hölzerne Leidenszug die Vorstellung von Maskierten hervorgerufen hatte. Und welch ein Anblick bot sich ihm hier dar! Über die Flache von Stirn und Wangen lief ein Geflecht von senkrechten und waagerechten Linien scharf eingeschnittene Kerbstreifen, die das ganze Gesicht mit einem regelmässigen schachbrettartigen Muster wie eine Tätowierung überzogen.
»Lieber Herr«, stammelte die Frau eintönig vor sich hin, »die Kinder, meine kleinen Kinder! Sie lagen beide im Gitterbett, wissen Sie, man klappt das Gitter an der Seite hoch, damit sie nicht hinausfallen, damit sie sich nichts antun im Dunkeln, im Schlaf, aber man hat ihnen etwas angetan, lieber Herr, man hat sie aus dem Schlaf gerissen und-wollte sie mir fortnehmen, da habe ich mich an das Bett geklammert, da habe .ich auf den Knien gelegen und mein Gesicht gegen das Gitter gepresst; lieber Herr, und immer fester gegen die Metallstäbe gedrückt, weil man mich fortzerren wollte von den kleinen Geschöpfen dahinter, die so wimmerten und auf einmal so grässlich still wurden, und da sind mir die Augen ausgebrannt, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte, dass ich nichts mehr fühlte und wie Eisen wurde, ganz kalt und leblos wurde ich, das ist das letzte, woran ich mich erinnere, und nun ist immer das Gitter vor meinem Gesicht, das nicht weichen will, dabei ist es so glatt und einfach gewesen vordem, wenn mein Mann mit seiner Hand darüber fuhr und die Kinder danach tatschten, die müssten auch hier sein, · aber wie sollen sie mich nun erkennen, das frage ich mich, lieber Herr, das frage ich.«
Aber sie schien keine Antwort zu erwarten, sie sank teilnahmslos zurück und bewegte die Lippen in lautlosem Selbstgespräch. Im Chor der-Verfolgten und Gequälten hallte es auf: »Miserere! Miserere nobis!«
Da drang eine neue Stimme an Roberts Ohr, ein Mann war es, abgemagert, zum Skelett, der flüsternd auf ihn einredete.
…»Würden Sie bitte«, wandte sich die Stimme an den Archivar , »zu Protokoll nehmen, dass ich mich im grossen Untersuchungszimmer beim Arzt krank gemeldet hatte, der in seinem weissen Kittel mit dem Hörrohr in der Hand dastand. Während er es ansetzt, um mich, wie ich annehme abzuhorchen verwandelt es sich in eine blitzende Stahlrute, und ich werde zu einer kleinen Zelle gewiesen, wie sie auf allen Seiten das Untersuchungszimmer begrenzen. >Bitte schön<, sagt der Arzt, unter seinem Schnurrbart grinsend, und weist auf die geöffnete Tür, >für Sonderfälle<. Da packt mich ein unbeschreibliches Grauen. Seitdem habe ich die fixe Idee, dass es Ärzte gibt, die nicht Krankheits-, sondern Lebensaustreiber sind. Würden Sie das hitte zu Protokoll nehmen.«
Auch diese Flüsterstimme erstarb, und wieder fing sich im Echo der Sprechchor: »Miserere! Miserere nobis!«
Mitten hinein schrie erneut ein Schwarzblusiger mit vierschrötigem Schädel: »Jammert nur nach Engeln, die euch trösten sollen. Durch den Himmel fliegen nur verkleidete Harpyien, fliegen nur Granaten und Giftbazillen, die euch das Mark aus dem Leibe saugen. Ein Narr, wer immer nur zu den Opfern gehört. Seht mal«, fuhr er behäbig fort, während seine Gestalt von Wort zu Wort stärker anschwoll, so dass er bald wie ein auf gepumpter Koloss auf einem Sockel dastand, »es gibt Schieber und Geschobene, Herren- und Herdennaturen, Feiste und Hungerleider, man muss nur die richtige Nummer ziehen im Leben und auf der hellen Seite zu stehen wissen. Schwachheit fordert zu Misshandlung heraus, Geducktheit zu weiterem Erpressen. Auch im Spiel der Völker spielt einer Trümpfe und Asse aus und die anderen mit den schlechten Karten müssen passen und bedienen. Recht ist, was mir auf Erden nutzt, und Wahrheit, was meiner Gesinnung Vorteil bringt.«
Aufgebläht stand er da. Aus der erregten Menge derVersammlung schwirrten die Worte wie Fetzen. »All Wahrheit ist Lüge«, schrie eine ekstatische Stimme auf »Man hat uns vorgeredet, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei -« Ein Hohngelächter der Unglücklichen irrlichterte auf. »Der letzte Dreckhaufen der Welt ist er! Der Abschaum der Natur ist das Menschengeschlech!«
»Da sind«, rief die auf gedunsene Blutmaske, »wir endlich der gleichen Meinung. Ich werde euch den Kadavergehorsam schon beibringen. Wenn ihr auch ein Misthaufen seid!«
Die Rede verlor sich in einem Spülicht von Zoten. Als das rohe Lachen. der anderen Blutmasken aufschallte, hörte man an dem Kreischen, dass sich unter ihnen auch Frauen befanden. ,Die Figuren waren überlebensgross auf geblasen, die Muskelpakete strotzten, die Ell bogen standen spitz und böse heraus.
»Wohlan«, hob sich aus dem aufgeregten Gewirr die Stimme eines Grünmaskierten heraus, der sich nur mühsam auf den Füssen hielt, »wenn die Welt in den letzten zweitausend Jahren um keinen Deut besser geworden ist, wenn die Menschheit immer nur und immer noch aus Mördern und Ermordeten, aus Henkern und Opfermenge besteht, dann zum Teufel mit allen Geisteskräften, dann weg mit der Fata Morgana, die uns Religion und Philosophie vorspiegeln, dann fort mit Vorstellungen von Gott und Götterreichen, mit Zebaoth und Brahma, mit Buddho und Christus, mit Heiligen und Aposteln, Schluss mit den Priestern und Weisen der Vorzeit, mit Himmelsgespinsten und Lügen von Erlösung, dann her mit dem Chaos, dem grossen Nichts, herauf mit der Götterdämmerung, dem Veitstanz der Vernichtung, heran mit dem Aschenregen. des Bösen, dem Inferno der Brutalität!«
Trunken vor Verzweiflung war der Leib des Sprechenden ohne sich vom Fleck zu rühren, in ein immer stärkeres Schwanken geraten, und der schluchzende Rhythmus beschwor die leidende Menge der Masken, bis sie wie Derwische sich heulend hin und her wiegten. Dem Archivar klopften die Pulse zum Zerspringen, ihm taumelten die Sinne. Ein rasender Schmerz griff in sein Herz, das wie ein Schwamm zusammengepresst wurde. Er rang nach Luft, drückte die Handflächen fest gegen seine Brust, wie damals, als ihn der Anfall vor den Fresken im Bildersaal der Kunststeinfabrik überkam. – War das noch Wirklichkeit oder waren Menschen und Reden nur Ausgeburten seiner Phantasie? War er Zeuge einer verzweifelten Theodizee oder einer Messe des Satans? Wenn sich in diesem Augenblick der Schlund der Erde aufgetan hätte, um ihn mit allen diesen Geschöpfen zu verschlingen, es hätte den Archivar kaum überrascht, es wäre ihm wie eine Erlösung, wie das befreiende Ende aus dem Wahnwitz erschienen.
Die Schwarzfiguren waren unförmig angeschwollen, standen prall bis zum Bersten. Die wässerigen Augen der Megären glotzten leer zur Kellerdecke, die Knuten hingen schlaff von den Hüften. Robert sah sich in einen Mittelpunkt gedrängt, der ihn zugleich von dem Kreis der Masken in zunehmendem Masse isolierte. Was hier vor sich ging an grober Anmassung und Brutalität der schwarzen Garde, an Klagen und bitterer Verwünschung der Erniedrigten, lief nicht mehr als Gegenwart eines Augenblickes ab, es war das geronnene Bild der Hölle, die sich Menschen einander geschaffen hatten. Der Mumienpräsident der Staubfabrik könnte wohl triumphieren.
Robert fühlte die Blicke der Herren vom Komitee, die ihn zu dieser Versammlung eingeladen hatten, auf sich gerichtet, als hätte er schon zu lange die passive Rolle eines schweigsamen Zuschauers abgegeben. Die Szene auf dem Tauschmarkt tauchte vor ihm auf, aber wie wenig bedeutete jene Bedrängnis im Vergleich zu dieser. Was erwartete man von ihm?Ein Eingreifen als Amtsperson oder als Mensch? In seiner amtlichen Eigenschaft war er als Chronist, als Historiograph der Stadt eingesetzt und nicht zum Richter berufen. Zu jedem hätte er gehen und mit jedem einzelnen sprechen müssen um ihm das Fürchterliche abzunehmen oder wenigstens die Furcht. Hatte er das Recht, sich hinzustellen und eine Ansprache zu halten? Er war nicht einer von ihnen, und er war auch kein Mitglied der Präfektur. Hier offenbarten sich Gewalt und Ohnmacht, Triumph undTrauer in so schonungslosen Gegensätzen, dass die Fragestellung vor das Weltgericht gehörte, vor das erfahrene Forum der Präfektur. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf wirbelten, hörte er sich plötzlich selber reden.
»Unser Leben«, sagte er stossweise, »kann nichts anderes sein als« – . mühsam fand er nur Atem – »als der natürliche Weg zum Tod.«
Erschrocken stutzte er, als hätte er mit dieser lapidaren Feststellung etwas Ungeheuerliches ausgesagt. Er hätte das Leben auch als das geistige Mittel zum Tode bezeichnen können, aber es hätte missverständlicher geklungen, obwohl die gleiche Erkenntnis damit zum Ausdruck kam. Er wurde der Worte eingedenk, mit denen ihn die Stimme des Präfekten bei seiner Ankunft empfangen hatte. Hatten sich unbewusst Ideen der Präfektur seiner schon so bemächtigt, dass es nicht mehr seine Gedanken waren, die er vor diesen verscheuchten Seelen aussprach?
»Niemand ist mehr er selber«, sagte er laut, wie eine Antwort auf die eigene Frage, und er sah, dass die Versammelten schwerfällig und bedächtig mit den Köpfen nickten, als wollten sie kundtun, wie treffend dieser Satz sie und ihren Zustand begriff.
»Mir-kommt es so vor«, fuhr Robert nach Worten suchend fort, »als ob das Böse, die Gemeinheit, die Niedertracht, all die Scheusslichkeiten erst durch uns, durch unseren Verstand in die Welt gebracht werden. Dieser klägliche Verstand, er nur zu vernichten versteht. Der sich auf die sogenannte Wirklichkeit verlässt, auf den Schein, die Zeitlichkeit, auf den Kampf ums Glück. Was wir damit als Realität kaufen, wird uns in Wahrheit immer in falscher Münze zurückgezahlt.«
Hunderte von Augenpaaren starrten ihn aus einer wächsernen Stille an. Er sprach davon, dass im Bestande eines grossen Archivs, in das ihn die Stadt abgesandt habe, alles an Menschenleid und Menschenhoffnung aufgezeichnet stehe, auch der namenlose Beitrag ihrer Schmerzen. Dass die grauenvollen Mächte dort in ein gespenstisches Nichts einsänken, ohne Wirklichkeit und sinnliche Wiederkehr blieben, auch der Anteil ihrer Folterknechte.
»Wenn ich sage«, schloss der Chronist, »dass das Leben ein Gleichnis des Todes ist, so gibt euch das Wissen darum keinen Trost. Trost schenkt nur gläubige Liebe. Aber ihr fühlt vielleicht, dass es einen tieferen Sinn gibt, der die Not des einzelnen überdauert.«
Eine milde Schläfrigkeit hatte die Gesichter der Versammlung überzogen. Was eben noch jeden erbeben gemacht und ereifert hatte, war blasser geworden, durch einen Vorhang gedämpft. Auch die Flüche der übermenschlich gedunsenen Schwarzfiguren, die wie aus einem Schlammbad aufstiegen, klangen aus einer gewesenen Welt. Zwar mühten sie sich, altgewohnte Befehle herauszuschleudern. »Antreten!« brüllten sie, »Knie beugt! Abzählen! An den Pfahl! Vortreten! In die Kammern!« Die Kommandos hetzten, die Stimmen überschlugen sich. Wohl hatte zunächst ein Erschrecken die Versammlung durchlaufen, aber niemand regte sich. Sie wandten die Köpfe gleichgültig ab, als hätte die Realität keinen Bezug mehr auf sie. Auch das heisere Gebell der· Befehlenden verlor sich in knurrendes Röcheln. Steif standen sie mit ihren massigen Gliedmassen auf. Dem Podium da, wie ausgestopfte Figuren.
Der Archivar ging langsam auf sie zu.
»Das Kainsmal«, sagte er, »bleibt euren Stirnen ewig eingeschrieben.«
Dann tippte er mit seinem Federhalter dem ihm zunächst Aufgepflanzten mit leisem Druck gegeit die schwarze Hemdbrust.
»Staffage«, sagte er.
Es gab einen zischenden Laut, dem ähnlich, wenn Luft aus einem prallen Gummischlauch entweicht. Der aufgeblähte Wanst sackte in sich zusammen, schrumpfte immer mehr ein, bis nur noch eine leere Uniformhülle am Boden lag. So sank ein Popanz der Macht, ein Grosssprecher nach dem andern hin, während ein teuflischer Gestank aufstieg.
»So, meine Herren!« sagte der Archivar.
über die Versammlung ging der Schatten eines Lächelns. Doch waren die meisten zu lethargisch, um das Befreiende des Schauspiels zu empfinden. Viele strichen sich unschlüssig mit der Hand über die Stirn, als wüssten sie sich des Zwecks ihres Hierseins nicht mehr zo entsinnen. Einer der Herren vom Komitee überreichte dem Archivar eine Schriftenrolle. Auf dem Umschlag des stattlichen Bündels, das Robert zögernd in Empfang nahm, standen die Worte: Protokolle der Schrecksekunde.
Schon schob sich die Menge scheu und geduckt den Ausgängen zu, als hätte ein laues Vergessen alles Gewesene überspült. Ein eisiger Luftzug zog durch die KelIer, der alle Schmerzen aufzusaugen schien. Während die Gestalten der Weghuschenden dem Auge des Archivars verwaschener wurden, nahm er wahr, dass von der anderen Seite her zahllose neue Scharen von Grünmaskiert herandrängten, wippend, lärmend, keuchend.
Als die Reste der schwarzen Uniformen von Staddienern weggekehrt wurden, die in Lederschürzen und ‘Schirmmützen ihr Handwerk verrichteten, verliess auch der Archivar, die Schriftrolle in der ,Hand, langsam die Katakombe. Aus einiger Entfernung vernahm, er, wie aus dem leidenschaftlichen Stimmengebraus ein Redner , zu der neuen Versammlung zu sprechen begann.
Nicht freier Wille sei es gewesen, meinte der Chronist zu verstehen, der sie zu diesem Treffen vor der Zeit vereinigt habe, sondern der Zwang des Bösen. – Bestürzt stellte Robert fest, dass es die gleichen Worte waren, mit denen die eben abgelaufene Tagung begonnen hatte. Ihm war, als würde der Boden unter seinen Füssen weggezogen. Als er das Archiv im Alttor erreichte, schickte er Leonhard, der ihn ·erwartet hatte, aus seinem Zimmer, schleuderte das leere Buch der Chronik in die Ecke und schloss sich für die Nacht bis zur Morgenfrühe ein.
233-245

Denn den Archivar entwickelte ihnen in bündigen Worten, dass alle Opfer an Menschenblut die Erde nur unseliger und die Menschheit nur ärmer gemacht hätten, dass von der Geschichte im ganzen aus gesehen, jeder Eroberungswille immer den Todeskeim für den eigenen Untergang in sich trage und dass alle Angriffskriege im letzten Ergebnis umsonst geführt und alle Tausende und aber Tausende für nichts gefallen seien.
Zwar wollte sich mancher Haudegen gegen diese Erkenntnis auflehnen, weil sie alles auslöschte, was ihm einst von klein auf als Inbegriff des Lebens gegolten hatte, Kampf und Tapferkeit, Mut und Todesverachtung, und mancher Heisssporn brauste auf, ob denn Vaterlandsliebe ein Hurenwort geworden sei und alle ihre Leistungen ein barbarischer Spuk.
Der Archivar liess sich von diesen Zwischenrufen nicht beirren, hinter deren drohendem und schmähendem Ton er deutlich eine Verzweiflung heraushörte, die Verzweiflung darüber, dass die Grundlage ihrer bisherigen Anschauungen in Frage gestellt war. Gegen die vermeintlichen Tugenden der Kriegskaste setzte er die Auswirkungen aller Art von Waffengewalt, die Missachtung der menschlichen Würde, die Rohheit und Brutalität der wachgerufenen Instinkte, das Toten auf Befehl und im Rausch des Hasses, das Verwüsten und Vernichten um seiner selbst willen, das Grauen und die Schmerzen der Kreatur. Er berief zu Zeugen seiner Worte das Elend und das Unglück., das Leid ohne Mass der Unschuldigen, all das namenlose Leid der gequälten Erde.
»Das Ende aller grossen Schlachten«, sagte der Archivar, »ist niemals der Frieden. Das Ende und das Erbe der Kriege, das sie den Überlebenden hinterlassen, ist immer ein geschändetes Stück. Welt, ein geschändetes Stück Menschheit. Es gibt keinen vernünftigen Grund, um die ewigen Wunden zu rechtfertigen, die sich der menschliche Geist zufügt. Sich immer von neuem zufügt, solange er sich der rohen Gewalt überantwortet. Wer nicht den Wahnsinn fühlt, den Widersinn dieses unnatürlichen Spiels, der muss wenigstens die Verstümmelung des Menschengeschlechts zugeben, die unaufhaltsame Selbstzerstörung. Denn die Natur lässt sich nicht betrugen. Wer sich zum Werkzeug sinnloser Vernichtung macht – denkt an euch -, wird selber sinnlos vernichtet werden.« ·
Da begriffen die meisten ihr Los. Viele fingen allmählich auch zu begreifen an, dass ihre Waffen und ihre Waffenkleidung eine künstliche Wirklichkeit, eine eingeredete Phrase bedeuteten. Dass es die “Ehre” nicht gab, für die sie zu kämpfen gemeint, sondern dass nur die Blutschuld blieb. Dass sie sich hatten missbrauchen lassen und zu Totengräbern Europas geworden waren. So hätten sie der Worte kaum noch bedurft, mit denen der Archivar »kraft seines Amtes als Chronist der Totenstadt«, wie er sich ausdrückte, ihnen erklärte, dass ihre Söhne und Enkel in dem Krieg, der wieder um die Herrschaft der Welt entfesselt war, genau so umsonst.fallen würden, wie je der von ihnen dereinst umsonst gefallen war, für nichts nämlich, das Bestand habe, für nichts. Wer nun damit begonnen hatte, sein Gewehr aus Holz zu zerbrechen, war nicht festzustellen, doch genügte dieses eine Beispiel, um einen nach dem anderen zu bewegen, wortlos das gleiche zu tun. Sie schlugen die Waffen, die ihnen einmal teuer gewesen waren, in Stücke, die Säbel und Lanzen, die Flinten und Maschinenpistolen, und sie türmten das Spielzeug des Bösen zu einem Scheiterhaufen auf. Sie wehrten sich nicht länger gegen die nüchterne Wahrheit, gegen das Eingeständnis ihrer eigenen Schuld. Dann hockten sie erschöpft am Boden, wie Wanderer, die nach langem Irrweg rasten. Sie ruhten aus, von einer Gewissenslast befreit die ihnen zögernd und spät bewusst wurde.
290-292
Der Vorgang des Sterbens, der sich noch auf der anderen Seite des Stroms vollzieht, entspricht wenn ich es richtig verstehe, der Zustand, in dem wir uns
zunächst hier alle befinden. Es ist gleichsam Seite die Fortsetzung unserer Verwandlung. die an deren Akt des Sterbens nimmt die Seele, nimmt unser menschliches Unterbewusstsein das Gefühl des Todes mens vorweg und in dem ersten Zustand klingt noch ein Gefühl des Lebens nach. Es ist nicht die Auferstehung, wie manche zuerst glauben, sondern eine Durchgangsstation, in der das Leben wie durch einen Filter abläuft, bis zuletzt nur noch seine leere Form nachgeahmt wird. Jedenfalls steht für mich fest, dass es ein Durchgang ist – denken Sie an die ständigen Abberufungen, bei euch das Abrücken zu angeblichen Manövern, von denen keiner zurückkehrt, bei uns in der Stadt die nächtlichen Sammeltransporte unter dem Ruf des Horns, denen jeder mit einer ähnlichen Angst entgegensieht, wie die meisten drüben dem Ende ihrer Lebenszeit. Manche empfinden den hiesigen Aufenthalt wie eine leerlaufende Gefangenschaft, aber die meisten sehe ich danach streben, die Dauer in dieser Durchgangsstation nach Möglichkeit auszudehnen. Sie wird den einzelnen ganz verschieden gewährt, doch scheint die Länge oder Kürze im allgemeinen schon für je den bei seinem Eintritt in die Stadt festzustehen. Sie unterliegt zweifellos einem bestimmten System, das sich in den Richtlinien der Präfektur ausdrückt. Die Art der Gesetzmässigkeit ist mir noch verborgen, doch ahne ich sie; aber selbst wenn sie mir offenbar würde, dürfte davon nicht geredet werden. Übrigens möchte ich annehmen, dass der einzelne keine Vorstellung davon hat, wie lange seineTotenjugend währt, da die früheren Zeitbegriffe für ihn aufgehört haben. Sein Empfinden und Denken kennt nur Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft bilden nur eine unbestimmte Erinnerung und Erwartung seiner Gegenwart. Ich sage Ihnen das alles, mein lieber Herr Berthelet, weil es sich mir jetzt aus den verschiedenen Erfahrungen ergibt, die ich in der Stadt gemacht hab und die mir zunächst als Begebenheiten sonderbar und ohne Übereinstimmung entgegentraten. Aber ich sage es Ihnen auch, weil es Ihnen, als einem Studenten der Philosophie, vielleicht in diesem Augenblick noch eine Klärung von Fragen bedeutet, die Sie sonst zeit Ihres lebens beschäftigt hätten.«
Dem Archivar hatten sich Charakter und Ritus der Vorgänge in der Totenstadt immer mehr erschlossen, je länger er darüber sprach. Es war ein Monolog geworden, der erst zum Schluss wieder die Beziehung zu seinem Gesprächspartner fand. Als Robert auf sah, entdeckte er, dass Berthelets Kopf schräg nach vorn über die Schulter hing und dass seine Gestalt in eiriem tiefen Schlaf hin und her schwankte. Mitten im Stehen hatte ihn die Müdigkeit übermannt. Der Archivar griff mit den Armen unter seine Achseln und liess ihn vorsichtig zu Boden gleiten.
»Verzeihen Sie«, sagte der Student, den die Berührung wieder belebt hatte, »verzeihen Sie vielmals. Aber ich glaube alles verstanden zu haben.«
Der Archivar machte darauf aufmerksam, dass die letzten des historischen Heerzuges . ihre Rüstungen am grossen Scheiterhaufen niedergelegt batten und den übrigen folgten, die sich weit über die Ebene hin verstreuten. In der Luft wurde ein stärkeres Ziehen wahrnehmbar. »Die Erde«, sagte Berthelet langsam, »ist derweilen nicht mehr rund geblieben, sie ist für -uns eine abschüssige Fläche geworden.«
»Und doch«, sagte der Archivar; der inmitten der lagernden Soldatengruppen in weitem Umkreis als einziger aufrechtstand, »und doch habt ihr alle noch eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die nicht nur die gefallenen Soldaten, die alle Toten haben, solange sie in diesen Bezirken verweilen. Ihr aber vor allen!« .
Robert sah die ihm zugewandten Gesichter, von denen jetzt eines dem andern glich, auch das von Berthelet machte keine Ausnahme. Die zurückgesunken in tiefe Schattenlöcher, die Haut ein lehmiger Anstrich über den vortretenden Knochen, die Knorpel der Nasen, der Ohren weggeschliert, die Schädel blank und fest. Aber es fragte noch aus ihnen allen, es flackte und flackerte wie Lichtstümpfe, es begehrte noch auf nach der Erde, es griff in die Luft mit verlangenden Händen.
»Was können wir tun?« fragten die Gesten der Toten. »Kehrt über den Strom zurück!« sagte der Archivar und sah auf Berthelets Schädel, der sich zu ihm emporreckte. »Nicht um euretwillen kehrt zurück, wie ihr einmal wolltet, sondern um der Lebenden willen. Geht als Geister in ihre Träume ein, ergreift von ihrem Schlaf Besitz, jenem Zustand, der dem euren so ähnlich ist! Dort erscheint ihnen als mahnende Stimmen, als warnende und fordernde Stimmen und wenn es not tut als Plagegeister. Ihr haltet den Schlüssel des Gerichts in Händen.· Die Gegenwart eures Todes könnte die Zukunft des Lebens retten. Zwingt die Irdischen! Macht euch kund!«
So wie man Kindern zuredet, hatte der Archivar zu den toten Soldaten gesprochen. Kaum hatte er geendet, begannen die mächtigen Säulenarkaden der Kasernen zu schwanken, wie unter einem Erdbeben. Aber man spürte keine Bewegung der Sandfläche. Die steinernen Schäfte knickten ein, die alten Säulentrommeln kollerten herab, und der Architrav stürzte nach, das Giebelgebälk. Jetzt rissen die inneren Zellenwände der Kaserne auf, die Mauern sanken weg, das Gebäude blätterte langsam auf, Riegel nach Riegel, Geschoss nach Geschoss, bis es in sich zusammensackte.
Gebannt folgten die Schädel der Soldaten dem Vorgang. Tausende waren auf gesprungen und zeigten aufgeregt mit ihren Knochenfingern auf die Zerstörung. Sie vollzog sich nahezu lautlos, der Schall des Gelärms war wie wattiert, nur ein sausendes Zischen drang in den Gehörgang, ein Riesen, als ob ein Kartenhaus einfällt. Über dem dampfenden Schuttfeld drehten sich hohe Wirbel von Mörtelstaub, zerriebenen Lehm und pulverisiertem Muschelkalk, bis sie sich im trägen Griess zu Boden wälzten. Flammen zuckten durch den teigige Qualm, und ein hundertfältiger Funkenflug begann aufzustieben.
Bald hatte der grosse Scheiterhaufen Feuer gefangen. Wie Zunder · brannten die mürben Uniformen auf, und das welke Holz der Gewehre glühte. Der Turm der weggeworfenen Waffen lohte. Als die Hitzewelle bis zu der Stelle schlug, wo der Archivar stand, wich er langsam zurück, ohne den Bliek vonder Feuerpyramide zu lassen. In weitem Bogen umkreiste er ‘die Trümmerstätte der Tempelkasernen. Allmählich hatte sich der Dunst verzogen, und die Strahlen der untergehenden Sonne bohrten sich langsam aus dem kalten Blau des Himmels. Als sich der Archivar dem Scheiterhaufen wieder näherte, in dem das Waffenwerk der Menschen von über zweitausend Jahren brannte, gloste das Feuer noch und zuckte in reinigenden Flammen. Die toten Soldaten streunten über das Feld. Der Bann war von ihnen genommen. Ihre Ges tal ten, die mehr und mehr den Schein der Wirklichkeit zurückgewannen, umtanzten in wachsenden Kreisen die Feuerstätte, in der die falsche Ehre und der falsche Ruhm ihres · Lebens langsam zu Asche zerfielen. Nun waren sie erlöst. Der Wahn war gewichen.
Sie sahen den Mann, dessen Wort die Verwandlung hervorgerufen, der die Steine zum Wanken gebracht und den Scheiterhaufen entzündet hatte, ·wie eine Erscheinung stehen. Sie wussten nicht, dass es der Chronist ihrer Stadt war, der Abgesandte des Lebens im Dienste der Präfektur. Der Himmel versprach eine neue Morgenröte, unter der sie als waffenlose Geister umgehen den, wie er ihnen gesagt hatte.
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Soweit Robert erkennen konnte, schwebte in jedem Käfige, wie man sie für Raubzeug in zoologischen Gärten hält, ein riesiger gelbgleissender Grammophontrichter, aus dem – für den Archivar sogar in der weiten Entfernung noch hörbar ein wildes Getön drang. Die Menschen, die einzeln in den Käfigen hockten, versuchten beide Handballen gegen die Ohren zu pressen, um der Stimme aus dem Trichter zu entgehen. Aber nach den verzerrten Grimassen und den in heftiger Abwehr sich winden den Köpfen war zu urteilen, dass alles Bemühen, sich die Ohren zu verstopfen, vergeblich blieb. Wohin je der einzelne in dem Geviert seines Käfigs dem Schall auch zu entfliehen suchte, ob er verzweifelt an den Gitterstäben rüttelte oder sich betäubt auf den Boden schmiss, immer verfolgte, magnetisch angezogen, der pendelnde Trichter den Kopf des Gefangenen. Der Archivar setzte das Opernglas ab, um mit dem Sekretär einen fragenden Blick zu tauschen. Dann beobachtete er die Szene im Hintergrund weiter.
Von alters her«, hörte er den Sekretär ihm ins Ohr sagen, »befindet sich dort die eingezäunte Stelle, wo die Demagogen, die Staatstyrannen und Grosssprecher tagaus, tagein ihre eigenen Reden sich anhören müssen, mit denen sie einst ihr Volk verführt und auf gehetzt haben. Es ist nicht nur die hohle Fremdheit der eigenen Stimme aus ihren Lebzeiten, vor der sie erschrecken, sondern die unablässige Wiederholung ihrer Versprechungen und Prophezeiungen, deren Lüge und Hoffart sie nun blossstellt. Sie haben geredet und geredet und bis zu ihr Ende nicht wahrhaben wollen, was für schlechte Schmierenkomödianten sie zeitlebens abgegeben haben. Sehen Sie nur, wie der eine seine eitlen Lippen bewegt und noch immer die Worte nachbetet und der andere im Nebenkäfig wie ein Jahrmarktsschreier die Augen rollt und alle Posen wiederholen muss, die er bei seinen Reden anwandte! Jeder hat das Blaue vom Himmel heruntergelogen, nun macht ihnen der Himmel klar, dass seine Bläue geblieben ist. Jetzt würden sie vermutlich viel darum geben, ihre politischen Predigten, die Phrasen, mit denen sie ihren Zeitgenossen den Kopf verdreht hatten, ungesagt zu machen und alles Böse ungeschehen. Aber die Trichterstimme lässt sie nicht los. Man sieht also, dass die Verlängerung des Aufenthalts in unserem Zwischenreich nicht immer einen Vorteil bedeutet.”
Robert, der dieser Bemerkung des Sekretärs zustimmte und deren Richtigkeit nicht nur in diesem Fall einzusehen gelernt hatte, mochte sich im Augenblick nicht in eine Diskussion einlassen. Die Unannehmlichkeiten, denen jeder auf seine Weise hier ausgesetzt war, standen in einem merkwürdigen Widerspruch zu dem allgemeinen Verlangen, den Aufenthalt in der Stadt hinter dem Strom so lange wie nur möglich auszudehnen. Vermutlich noch eine atavistische Regung des Lebens, aus der Zeit jenseits des Stromes.
Sein Interesse war aber von den Vorgängen; die sich in der Käfigecke der Demagogen abspielte, noch so gefangen, dass er diese Gedanken nicht weiter verfolgte, Er konnte durch sein Glas beobachten wie die Anhänger, die von der Hysterie angesteckt noch eben den Götzen ihrer Hausmacht zugejubelt hatten, sich angekelt von den Schaukäfigen abkehrten. Immer weniger wurden es, die verstohlen vor einem der Grosssprecher stehenblieben. Aber auch diese, die ihre Enttäuschung über die entlarvten Volksführer nicht zugeben wollten und die, wie man aus ihrem Verhalten sah, meinten, es muss doch irgend etwas an den Worten und Reden gewesen sein, wandten sich sobald sie den Schwall der Phrasen wieder eine Weile gehort hatten, beschämt von dem falschen Theater ab. Schliesslich klatschten nur noch die Eingekäfigten dem Erguss ihrer eigenen Lächerlichkeit Beifall – rissen aber schon wieder die Hände an die Ohren, um nichts mehr davon zu hören. So sahen keine Märtyrer aus, sagte sich der Archivar. Es waren abgelaufene Phantasiegestalten, die von der Wirklichkeit widerlegt waren.
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XIX
Draussen lag die steinerne Landschaft in einer eintönigen Dämmerung. Rissige Graufetzen flatterten durch die Luft. Es gab weder Tag noch Nacht. Leonhard, dem es verwehrt war, den Archivar auf diesem Gang zu begleiten, führte ihn ein paar Schritte über das bucklige Felsplateau, an dessen jäh abstürzendem Rand er den Weg nehmen sollte. Durch den Abgrund getrennt, dessen tiefe nicht erkennbar war, sah man zur Linken nicht unweit die Umrisse einer auf- und absteigenden Kammlinie, die mit dem eigenen Bergmassiv einigermassen parallel zu laufen schien. Leonhard hatte Robert noch zugerufen, dass sich drüben der Geisterpfad der Dämonen hinschlängele, auf dem sich der Zug der Wanderer aus der Stadt bewege. Der Sturm verschlug die Worte, und Robert winkte ihm nur kurz zu. Er hatte den Kragen des Pelzmantels hochgeschlagen und stapfte davon, während Leonhard in die Gasthütte zurückkehrte, wo er sich in der Saalecke ein Lager für die Nacht zurechtmachte. Beim Gehen hielt Robert den Kopf meist zu Boden gesenkt. Kein Zeichen wies eine Spur auf der vom Wind glattpolierten Gesteinsdecke, die aus flach gerillten Platten bestand. Zuweilen schoben sie sich zu unförmigen Stufen eines Riesen übereinander, die er zu umgehen versuchte oder überklettern musste. Um die Richtung nicht zu ver lieren, hielt er sich in naher Entfernung zu dem zackig ausschweifenden Rand, der am Abgrund entlang führte. Nebel, der wie klebriger· Schimmelpilz das abschüssige Gestein überkroch, verdeckte den Blick in die Schlucht. Die Einsamkeit verstärkte jedes Geräusch. Aus der Tiefe der Schlucht drangen oft gurgelnde Laute wie von einem eingezwängten Wasserlauf herauf. Es polterte und rumorte. Zur Rechten war der Blick über die Hochebene häufig durch nahe, schroff aufragende Kuppen verstellt. Nirgends mehr ein Zeichen des Lebens, weder Pflanzen noch Moos. Ihn dünkte, als schritte er durch die verwunschene Natur einer Karstlandschaft, zwischen erloschenen Kratern. Wie lange sollte er die· mühselige Wanderung noch fortsetzen, wohin führte der Weg? Wie ein Alb legte sich das Gefühl der grenzenlosen Ödnis auf ihn. Es -war ihm nicht fremd. Die Verlassenheit aus vielen Lebensstunden flog ihn an. So war es, wenn das kahle Nichts ihn angegrinst hatte, wenn die Schwermutsflügel der Dämonen die Seele streiften, wenn der Urtraum der Angst erwachte, der den Willen lähmte. ·
Er hatte den Fuss auf einen: Steinriegel gestellt und spähte in die farblose Welt. Da gewahrte er auf dem Saumpfad jenseits des Abgrunds schwankende Gestalten, die schemenhaft auf und nieder tauchten. Bald hüpften sie wie Seiltänzer, bald blieben sie stehen, bogen den Leib zur Seite, als hätten sie das Gleichgewicht verloren, krümmten und drehten. sich um sich selber wie in einem Schwindelanfall, stemmten sich gegen den nächsten Schritt, wurden plötzlich auf rutschenden Knien vorwärts gezogen, wie von einer saugenden Gewalt ergriffen. Viele schlugen mit den Armen nach rechts und links besessen in die Luft, oder die Hände mühten sich, etwas zu greifen, wie Gaukler nach spielenden Bällen haschen, andere vergruben den Kopf in den Armen, um nichts zu sehen, und glitten wie Schlafwandler vorüber. Dann war für Roberts Augen der Zug wieder vom Nebel verschluckt.
Bisweilen vermeinte er Stimmen zu vernehmen, Laute, bei denen nicht zu unterscheiden war, ob sie Jubel oder Klage bedeuteten, anschwellende Akkorde wie Gesang – aber es mussten die stossenden Böen des Windes sein, die seine Ohren trafen. Doch woher nahm der Wind das pfeifende Singen, das Summen und Brausen wie Orgelstimmen, wenn nicht von den ziehenden Geistern? Robert hüllte sich dichter in seinen Pelz.
Das Gelände stieg an. Schleppender war der Gang des Archivars geworden, eine Mattigkeit packte ihn, kroch durch die Glieder und Gelenke, die Füsse wurden steifer und bewegten sich wie Teile eines Fremdkörpers Vorwärts. Eine ungewöhnliche Gleichgültigkeit überkam ihn allem Geschehen gegenüber, nirgendsmehr fühlte er eine Beziehung, an die Vergangenheit anzuknüpfen. Er wurde eingefangen von der Gleichförmigkeit der toten Landschaft, er war ein Teil der Weltöde. Taumelnd lehnte er sich an einen verwitterten Steinblock, die Füsse gaben nach, er hockte am Boden. Das Licht hing in silbernen Flocken, gläserne Streif en zogen an ihm vorbei. Er hatte die Augen geschlossen.
Die Ohnmacht des Schlafes währte nur Sekunden. Als er sich blinzelnd umschaute, entdeckte er jenseits der Kluft eine weite Ebene. Der gegenüberliegende Gebirgsgrat war sattelförmig eingesunken und gab dem Blick einen breiten Ausschnitt bis an den Horizont frei. Prall lagen im satten Licht die scharf geschnittenen Karos von gelben Weizenfeldern, und man meinte die trächtigen Halme in den langsamen Windwellen schwanken zu sehen, Kartoffel- und Rübenfelder hoben sich in dunkleren Flächen heraus, Maispflanzungen grenzten daran, und man meinte die schliffigen Blätter klirren zu hören. Baumalleen querten das Land, Wegkreuze und Kapellen glänzten auf. Verstreut lagen Gehöfte von grünem Laub umbuscht, die Bauernhöfe mit Ställen und Scheunen, einem bunten Stück Gartenland und der Geissblattlaube. Dörfer zeichneten sich ah, um ihren Kirchturm geschart. Farbige Tupfen bewegten sich: Knechte mochten es sein, die in ihren Wämsen werkten, und Mägde in ihrer Tracht, volle Wagen, die heimfuhren, weidendes Vieh in den Koppeln, wehende Wäschestücke, die im Winde trockneten. In der Ferne hob sich eine Silhouette einer grösseren Stad ab, Hochhäuser ud Türme ragten aus dem Gewimmel der Dächer auf, mächtige Fabrikanlagen flankierten mit rauchenden Schornsteinen das städtische Vorfeld. Ruhiger Fleiss und nährender Wohlstand lagen über dem Bild.
Plötzlich begann die Luft über der Stadt und dem Land zu fliessen. Die Leute auf Strassen und Feldern zeigten gestikulierend zum Himmel. Ein dichter Schwarm von Wandervögeln, keilförmig in grosser Höhe fliegend, schien sich rasch zu nähern. Sie waren schon längst weiter geschwirrt, als sich der Raum der Landschaft mit einem fahlen Staubregen überzog. Kleine Wolkentropfen von giftgrüner Färbung wie das Exkrement von Raubvögeln fielen ohne Ehrfurcht herab. Dort, wo sie zu Boden stiessen, entstanden brandige Stellen, in den Feldern, den Gehöften, den Siedlungen, die im Nu um sich griffen. Überall schossen weissgelbe Feuergarben auf, und bevor sich der Qualm entwickelte, sah man Vieh und Menschen in einer erstarrten Gebärde hilflos am Boden liegen. Mit der Schnelligkeit eines aufzuckenden Blitzes war die Stadt aufgeflammt und in sich zusammengestürzt. Kein Turm, kein Hochhaus, kein Schornstein der Fabriken zeichnete seine stolzen Linien gegen den Horizont ab. Ein breiiges Etwas, dem Auge nicht mehr kenntlich, lag da, wo eben noch eine Stadt gestanden hatte. Schon war das Bild mit weissen Schleiern verhüllt, und der Himmel rötete sich wie bei Sonnenuntergang.
Der Chronist rieb sich die Augen und putzte sich die Brillengläser. Als er wieder aufblickte, hatte sich der Dunst verzogen. Er stand auf. So weit das Auge reichte, sah er eine kahle, zerrissene Steppe, aus der sich hier und da ein verkrüppelter Baum erhob. Menschen sah er nicht mehr auf der Erde. Es musste eine Luftspiegelung gewesen sein, die ihm das blühende Bild vorgetäuscht hatte. Eine Traumlandschaft, aus der er benommen zu sich kam. Während er sich anschickte , weiterzugehen, glaubte er aus der Luft ein fernes Grollen zu hören. Er blickte nach oben. Träge stand die Dämmerung um ihn. Vielleicht, so schien es ihm, hatte das Grau einen Schimmer von Purpur angenommen.
Die Sinne waren wie ausgelöscht, ausgewechselt. Längst sah er den Grat mit dem Passweg auf der anderen Seite der Schlucht wieder in annähernd gleicher Höhe mit dem seinen. Der Abstand schien sich allmählich zu verringern, und der Geisterzug rückte bald auf die Entfernung einer Strassenbreite näher. Auch das blecherne Lärmen aus der Schlucht-wie Wasser, das über Kiesel läuft-war deutlicher geworden. Ein unheimliches Gefühl trieb ihn voran, als würde er, den anderen gleich, von einem fürchterlichen Magneten angezogen, gegen den es keinen Widerstand gab. Es war wie ein Wettlauf, der sich zwischen ihm und der Meute der einzeln dahinziehenden Figuren entspann. Aber sie liefen schneller als er, und eine nach der andern glitt an ihm vorüber. Erst jetzt entdeckte er, dass kein Gewand mehr die Gestalten umhüllte, nackt schritten sie über den Saumpfad, ausgehöhlt und ohne Gesicht. Jeder schritt in der Fussspur des Vorgängers, ohne dessen Nähe und Gegenwart zu spüren. Während eine wachsende Felswand zur Rechten Robert bald nötigte, immer dichter am Abgrund entlang zu wandern, hatte sich auf der gegenüberliegenden Seite der Steinpfad zu einem ungefährlichen, ausgetretenen Weg verbreitert. Die eilenden Schemen jedoch empfanden darin keine Erleichterung, denn ein kaum sichtbarer Spalt, ein faustgrosser Findlingsstein im Wege genügten, um ihnen kaum überwindbare Hindernisse zu bereiten. Ein Terrassenabsatz, der sich aus der Verschiebung der Gesteinsplatten ergeben hatte und nicht höher· als der einer üblichen Treppenstufe war, schien den Sprung in eine bodenlose liefe zu bedeuten. Sie stutzten an dieser Stelle und · sträubten sich, bevor sie ·sich zu dem kleinen Schritt entschlossen, der für ihr Gefühl etwas Massloses zu haben schien.
Zu beiden Seiten der Wanderer ins Totenland drängten sich Fabelwesen und Fabeltiere um sie die an Sphinxe und Greifen, an Harpyien, und Flügelrochen erinnerten, mit bernsteinfarbenen, durchsichtig Leibern, in denen sich nur die Skelettknochen dunkel markierten, das Gebiss der Zähne, die Hufe und Kralle aus Horn. Keinen liessen sie vorüber, indem sie die einzeln ansprangen, die Glieder umschlungen hielten oder sich auf Kopf und Schulter hockten. Unter dem Ansturm der Dämonen schrumpften viele zu Zwergen zusammen und wurden in die ewige Dämmerung gewirbelt und im Fluge entführt, bis sie, sich selbst überlassen, zu Boden sanken. Andere setzten unangefochten den Weg fort, und die Fabelwesen umspielten freundlich ihren Fuss oder trugen sie auch eine Strecke auf dem Rücken wie· Haustiere.
Immer näher zog die hetzende Jagd der Seelenlosen an Robert vorüber, dem die Felswand. selber ,kaum noch Raum vor sich liess. Der trennende Abgrund war zu einer abgeflachten Geröllrinne geworden, in dem , ein trübes, spärliches Wasser floss. Schon fand sich der Chronist nicht mehr als etwa einhundert Schritte von dem Punkt entfernt, wo sein Weg mit dem Pfad·der Dämonen in einen mündete. Sein Fuss stockte. Bis an die Grenze des Möglichen gehen, hatte Leonhard gesagt. War sie hier? Hatte er-sie nicht schon längst überschritten – war sie je zu erreichen?
Bis zum Schnittpunkt der Wege wollte er vordringen, bis dorthin, wo die beiden Gesteinsflächen zusammen stiessen und wo, wenn es nicht trog, der trübe Quell entsprang. Vorsichtig tastete er weiter, oft an einen vorspringenden Stein der Felswand sich, klammernd. Kaum bot sich für den Fuss noch ein Tritt. Vor einer spitz herausspringenden Felsnase der Wand überlegte er, ob er nicht lieber den Sprung auf die breite Fläche der anderen Seite wagen sollte. Er bedachte, dass er auf dem gleichen Weg den er gekommen war, wieder zurück musste, und unterliess es. Er hangelte sich fest und fand an die Wand gepresst jenseits der vorspringenden Kante schliesslich mit dem linken Fuss neuen Halt. Der Fels trat zurück, und nach wenigen Schritten hatte er das Ende des Geröllspalts erreicht.
Das schrundige Gelände vor ihm war mit Buckeln und Steinmalen übersät, aus denen schwarze Löcher wie riesige Mäuler starrten. Die Luft stand lautlos, ohne Wind. Wenige Armlängen von ihm entfernt tanzte der Zug der Geistgänger über die Fläche und verlor sich nach ein paar Windungen rasch in den Berghöhlen.
Vor einer Felsnische sass eine starre Gestalt. Sie hockte breit wie ein Marktweib am Wege, und ihr Gesicht war verschleiert. Über die weit auseinander gestellten Knie spannte sich der Rock wie eine Decke aus Blei. Mitunter tanzte einer der. Schemen aus der Reihe bis zu ihr, und es sah so aus, als bedürfte es nur eines Anstosses von ihr, ihn auf den bitteren Pfad zurückzuweisen.
Über dem Schoss hielt sie einen runden Feldstein in den Händen, den sie hin und her wiegte. Der Chronist, unschlüssig, wohin er sich .wenden sollte, trat langsam auf die Frau zu, doch wagte er zunächst nicht, sie anzureden. Er merkte wohl, dass sie ihn hinter ihrem Schleier geprüft hatte und beobachtete.
»Nun, Mütterchen«, sagte er schliesslich, »geht hier mein Weg weiter?«
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